01./02.05.2015: Groezrock Festival 2015 - Meerhout

12.05.2015
 

 

Mit nunmehr fünf Bühnen und 84 Bands lockt das belgische Groezrock Festival ein weiteres Jahr ins ländliche Meerhout. Wenn man nicht gerade der durchgehend besoffenen Camping-Fraktion angehört, hat man an diesem ersten Mai-Wochenende also einiges zu tun.

Wie immer öffnet der Campingplatz schon donnerstags, und die Leute können sich im Partyzelt bereits zu den Songs, die DJ Mike auflegt, warm machen. Alternativ fand im Vorfeld des Groezrock 2015 auch eine geheime Warm-Up-Show statt, bei der neben Ceremony kurzerhand auch Refused vor wenigen hundert Leuten auftraten.

Am Freitagmittag um 12 Uhr sind es dann JOYCE MANOR, die auf der Main Stage das Festival eröffnen. Obwohl sie vermutlich auf einer der größten Bühnen ihrer Karriere stehen, liefern die vier Kalifornier ein nahezu makelloses Set ab und bringen die ersten Festivalbesucher mit ihrem Punkrock nach rauer Gangart zum Tanzen und zum Mitsingen. Dabei liegt der Fokus ganz klar auf ihrem aktuellen Album „Never Hungover Again“, das im letzten Jahr veröffentlicht wurde und auf dem die Band sich so massenkompatibel wie nie zuvor präsentierte – was durchaus positiv gemeint ist. „Heart Tattoo“ und „Schley“ halten den Pogo am Laufen, während das ruhige „Falling in Love Again“ gegen Ende des Sets als Verschnaufpause dient. Doch auch alte Eisen wie „Leather Jacket“ oder „Constant Headache“ werden natürlich von JOYCE MANOR gespielt. Abgerundet wird das Set von einem Weezer-Cover. Passt wie die Faust auf’s Auge, schließlich sehen JOYCE MANOR selbst auch nach einer Mischung aus Nerd und College-Boy aus und den Einfluss auf die Musik der Band kann man sich auch bestens vorstellen. Ein Glück, dass ein breiter Bühnengraben vor der Bühne klafft, sodass stagedivende Fans nicht wieder zur Raison gezogen werden müssen. Was Scott Vogel wohl zu dieser Band sagen würde?

Auf der vierten Bühne wartet dann um kurz vor halb eins schon das erste richtig große Festival-Highlight auf die Zuschauer: BEACH SLANG aus Philadelphia sind gerade im Vorprogramm von Knapsack auf Europa-Tour und spielen im Zuge dessen heute auf dem Groezrock ihre erste Show auf dem alten Kontinenten. Und was für eine. Von Beginn an gehen die Fans mit und feiern die spärliche Diskographie der Band (bestehend aus zwei EPs) vollends ab. Die Band ist darüber sichtlich erstaunt, und Frontmann James Alex kriegt sich kaum ein vor lauter Freude. Hin und her schwankend zwischen einer hysterischen, leicht verkifften Lache und sympathischen Ansagen hat er die überraschend große Menge vor der Bühne fest im Griff und hält sie im Bann. „When I die, this will be the biggest chapter in my life!“ heißt es da kurz vor Ende des Auftritts. Wie einer meiner Festivalkumpanen meint: Ganz schön dick aufgetragen. Ja, aber irgendwie trotzdem authentisch. Obwohl Alex nichtmehr wie der jüngste aussieht, nimmt man ihm die kindliche Freude am musizieren ab. Und ohne diesen begnadeten Frontmann wäre die Band wahrscheinlich auch nur halb so spannend, denn er ist nicht nur für den charakteristischen, leicht gehauchten und angerauten Gesang von BEACH SLANG verantwortlich, sondern auch für einige Lead-Riffs und für den Abgehfaktor der Kapelle. „I hope when I die, I feel this alive“ heißt es in “American Girls and French Kisses” – ein passenderes Motto könnte es für diesen Auftritt wohl sowohl seitens der Band als auch der Fans kaum geben. Diese Band sollte man sich auf dem Zettel behalten und hoffen, dass sie Europa bald wieder beehrt. Absoluter Geheimtipp für Fans von Iron Chic, aber auch der frühen Gaslight Anthem – auch wenn es angesichts des sehr eigenen Sounds wirklich schwer fällt, Vergleiche zu ziehen.

Zurück auf der Hauptbühne kann man, wenn man so will, nicht nur den letzten Groezrock-Auftritt von THE SWELLERS miterleben, sondern ihren letzten Auftritt überhaupt. Zum 12-jährigen Jubiläum hatte die Band mit dem Break-Up-Announcement ihren Fans nicht gerade ein Geschenk gemacht. Das Groezrock Festival jedenfalls nennt Drummer Jonathan Diener, der regelmässig bloggt, „das Mekka des Punkrock“. Da könnte was dran sein, zumindest für den europäischen Kontinent. Schließlich gibt es da ja auch noch so ein gewisses Fest in Gainesville. Etwas schade natürlich für die Band, schon um ein Uhr mittags auf den Brettern zu stehen, dafür aber immerhin auf der Hauptbühne und deshalb dennoch vor mehr als tausend Leuten. Für jemanden wie mich, der sich vorher noch nie mit den SWELLERS beschäftigt hat, ist das Ganze recht unterhaltsam, aber nicht mehr. Im Vergleich zu den beiden Bands, die ich vorher bereits gesehen habe, verlassen sich die SWELLERS bei ihrer Interpretation von Punkrock deutlich mehr auf die 3-Akkord-Struktur als auf ausgeklügeltes Songwriting, bringen aber eine größere Portion Mitsing-Faktor mit ein als zuvor Joyce Manor und Beach Slang. Mir ist das ganze allerdings etwas zu glatt poliert und austauschbar. Dennoch hoffe ich, dass die Band und ihre Fans einen schönen letzten Gig hatten. Das sah jedenfalls so aus und hörte sich so an.

Um einiges intimer geht es im Anschluss erneut auf der vierten Bühne weiter, wo die GNARWOLVES aus dem Vereinigten Königreich ihre Fanbase zusammengeschart haben und den Stagedive-Reigen des Wochenendes eröffnen. Es ist verblüffend zu sehen, wie groß diese Band inzwischen geworden ist, aber ob der Veröffentlichungswut der GNARWOLVES (3 EPs, 1 Album und 1 Compilation seit der Gründung 2011) und dem damit verbundenen Arbeits-Ethos ist das irgendwie auch kein Wunder. Es ist deutlich zu merken, dass viele Zuschauer durch die „Cru“ EP zu der Band gefunden hat, denn „History is Bunk“ und „Community, Stability, Identity“ werden frenetisch abgefeiert. Nicht, dass die neuen Songs wesentlich schlechter weg kämen. Auch die GNARWOLVES kommen wie Beach Slang zuvor als sehr authentische Punk-Band rüber, die einfach den größten Spaß der Welt bei dem hat, was sie da auf der Bühne macht. Angesichts der bisherigen Karriere der drei Brightoner ist es nur anzunehmen, dass die Band weiter und weiter wachsen wird. Als Headliner für die örtlichen Jugendzentren ist sie jedenfalls jetzt schon bestens geeignet.

Nach einer kurzen Bandpause und einer ersten Orientierung auf dem Festivalgelände, das einen dieses Jahr mit 7-8 verschiedenen Lärmquellen mehr denn je überflutet stehen THE HOTELIER, ehemals The Hotel Year, auf der vierten Bühne in den Startlöchern. Die Band aus Dudley, Massachusetts  wird nach dem Groezrock im Rahmen der Pirate Satellite Festivals durch Deutschland und anschließend mit Emperor X durch das Vereinigte Königreich touren. Zuvor war man mit Title Fight und La Dispute in Amerika unterwegs, ganz schönes Tourpensum also. Sollte die Band jetzt noch als Geheimtipp durchgehen, wird sie spätestens nach den Deutschland-Shows mit Make Do and Mend, Samiam, Joyce Manor, Teenage Battlerocket und Masked Intruder eine feste Größe im Punkrock-Zirkus hierzulande werden.  Denn mit dem 2014 erschienenen „Home, Like No Place There Is“ haben sich THE HOTELIER bestens platziert. Das Album sticht durch ein sehr frisches und detailverliebtes Songwriting aus der Masse und hat so selbst der kritischen Homepage Pitchfork eine Wertung von 8,2 entlockt. Neben den meist sehr harmonischen und ruhigen Arrangements ist es vor allem die variable Stimme von Bassist und Sänger Christian Holden, durch die sich diese Band im Gehörgang festsetzt. Am besten spielen THE HOTELIER ihre Trümpfe wahrscheinlich in „Among the Wildflowers“ und „Your Deep Rest“ aus, das als letzter Song zum Mitsingen einlädt. Nach Meinung vieler Musikjournalisten stehen THE HOTELIER an der Spitze des „Emo-Revivals“, spätestens nach einem Live-Auftritt und einem aufmerksamen Durchgang des Albums weiß man dann auch, warum.

Längst etabliert sind dagegen AGAINST ME!, die um kurz nach vier die Hauptbühne betreten. Die einzige Frage, die sich da stellt, ist: Warum eigentlich so früh? Hat die Band heute noch was vor? Durch ihr Set spielen sich Laura Jane Grace und Kollegen jedenfalls auch sehr schnell und ohne große Reden zu schwingen. Bemerkenswert ist, wie die Band es schafft, alte und neue Lieder zu vermischen, ohne dass die Begeisterung der Zuschauer nachlässt. Vielleicht ist der Grund dafür, dass AGAINST ME! ihren Sound nie besonders stark geändert haben. Klar, “New Wave“ war poppiger als “Searching for a Former Clarity“ und “White Crosses” war nochmal poppiger als “New Wave”, aber einen groben Einschnitt oder ein durchschnittliches Album sucht man in der Diskographie der Band vergebens. Viele Bands bringen ein, vielleicht auch zwei bahnbrechende Alben heraus und profitieren noch Jahre später davon. Bei ihren Live-Shows merkt man anhand der Reaktion der Fans deutlich, was die „Klassiker“ sind. Doch AGAINST ME! fällt da raus. „Pints of Guinness Make You Strong“ kommt genau so gut an wie die brandneuen Songs von „Transgender Dysphoria Blues“ oder eben ein „Cliche Guevara“, was man vor einigen Jahren noch mit ein bisschen Mut als die Hymne der Band hätte bezeichnen können. Doch 2015 reihen sich „I Was a Teenage Anarchist“ (als großartiger Opener) oder „Thrash Unreal“ problemlos ein in die unverzichtbaren Songs einer Liveshow von AGAINST ME!. Und trotz dieses Hit-Feuerwerks wünscht man sich dann nach 40 Minuten, dass da noch was kommt.

Oder dass man einfach nicht schon vor dem Ende des Sets rüber zu COLD WORLD gegangen wäre. Es hat seine Gründe, weshalb die Band in der Hardcore-Szene den Status genießt, den sie in den letzten Jahren innehat. Das hat zum einen mit bahnbrechenden Platte wie „Dedicated to Babies Who Came Feet First“ oder noch eher „No Omega“ zu tun, zum anderen aber auch mit der Rarität, die COLD WORLD als Live-Band nun mal sind. Sänger Dan Mills wohnt mit seiner Familie in England, der Rest der Kapelle verteilt über Amerika. Natürlich ist da, insbesondere unter Berücksichtigung des Alters der Musiker, wochenlanges Touren nicht mehr drin. Und dementsprechend wird COLD WORLD jedes Mal, wenn erneut eine europäische Mini-Tour ansteht (meist 1 bis 3 Tage), abgefeiert wie kaum eine zweite Band. Aber wenn man nicht gerade am Stagediving teilnimmt und vorne seinen Spaß hat, ist es nicht wirklich ein Spektakel, was die Band abliefert. Sänger Dan ist recht kurzatmig und singt noch weniger selbst als auf der neuen Platte „How the Gods Chill“ ohnehin schon, aber auch instrumentell klingt das nicht wirklich kraftvoll. Tourgitarrist Arthur Rizk ist diesmal nicht im Gepäck, dafür helfen Jamie Rhoden und Ben Russin von Title Fight diesmal aus, damit COLD WORLD überhaupt spielen können. Eher eine Cover-Band heute also. Nick Woj, der auch viele Songs der Band geschrieben hat, fehlt also auf der jetzigen Europa Tour. Ein Rätsel ist es mir auch, wieso man von einer Europa-Tour spricht bzw. die Band auf dem Tourplakat die Flaggen von Frankreich, Italien, Deutschland usw. abgebildet hat, obwohl nur das Groezrock und UK bespielt werden. Vielleicht ist genau das der Witz. Naja, zurück zum Live-Set. Eingebaut wird auch ein kurzer Guest-Part von Title-Fight Frontmann Ned. Die Fans haben ihren Spaß, vor allem bei „Boom Bye Bye“ oder „Refuse to Lose“. Die neuen Songs werden einen Ticken schlechter angenommen. Ich bin allerdings nach der Show ähnlich enttäuscht wie letztes Jahr nach dem Ieperfest. Das einzige wirklich gute Konzert, dass ich jemals von COLD WORLD gesehen habe, war 2009 im Essener JUZ Papestraße.

Direkt im Anschluss geht es mit THE SMITH STREET BAND aus Down Under weiter. Es muss wirklich ein gutes Gefühl sein, am anderen Ende der Welt derart empfangen zu werden. Und diesen Eindruck machen Will Wagner und seine Bandkollegen auch. Bereits im zweiten Jahr nach Gang sind THE SMITH STREET BAND zu Gast. Obwohl ich den letztjährigen Auftritt verpasst habe, ist anzunehmen, dass heute deutlich einer draufgesetzt wird. Schließlich ist in der Zwischenzeit mit „Throw Me in the River“ ein fantastisches Album herausgekommen, mit dem sich die Band durch „Get High, See No One“ und allen voran „Surrender“ wahre Hymnen beschert hat, die eben auch in Belgien abgefeiert werden.

Neben top-aktuellen Bands wie der Smith Street Band oder Beach Slang besteht das Groezrock-Geheimrezept jedes Jahr aus zwei weiteren Komponenten: Einerseits richtig große Dinger, die man schon immer gerne mal mitnehmen wollte, für die man aber nicht bereit ist, auf einer Headliner-Show so viel Geld hinzulegen. Andererseits Reunions oder Bands, die schon seit etlichen Jahren nicht mehr auf unserem Kontinent zu bestaunen waren. ATREYU fallen in erstere Kategorie, das gilt zumindest für mich. Dafür, dass man „Suicide Notes and Butterfly Kisses“ und „The Curse“ früher mal toll fand, muss man wahrscheinlich zwischen 22 und 27 sein. Aber nach dem Auftritt auf dem Groezrock-Festival fällt es mir wirklich schwer zu verstehen, was ich an dieser Band mal gut fand. ATREYU sind eine dieser Bands, die auf anbiedernde Weise versuchen, Metal und Rock bzw. Geschrei und Clean-Gesänge zu vermischen, es irgendwie jedem Recht zu machen. Man könnte auch sagen: Der kleine Bruder von Avenged Sevenfold. Während ATREYU-Gitarrist Dan Jacobs, sicherlich eines der Aushängeschilder und der Blickfand der Band, es vielleicht mit Synyster Gates aufnehmen kann, zieht Schlagzeuger Brandon Sailer gegen den Rev (R.I.P.) eindeutig den kürzeren. Nicht nur hatte der Rev einen innovativeren Drumming-Stil, er ging einem auch nicht ständig mit Gejaule auf den Nerv. So der Fall bei ATREYU. Doch natürlich ist es genau die hohe Stimme von Sailer, die ATREYU schon immer ausgemacht hat und die die Fans der Band auch so schätzen. Das muss man einfach mögen, es fällt in eine Kategorie mit dem, was Bands wie In Hearts Wake oder The Elijah (wobei Michael McGough ja nun schon länger bei Being as an Ocean ist) auch in deren Sound integriert haben. Poppige Clean-Vocals scheiden nun mal seit jeher die Geister, mein Fall war es scheinbar mal für eine kurze Zeit, ist es aber überhaupt nicht mehr. So macht mir der Auftritt von ATREYU kaum Spaß, nicht mal bei „Right Side of the Bed“ oder „Bleeding Mascara“. Ein wenig vielleicht bei „A Song for the Optimists“ oder „Lip Gloss and Black“. Ja, natürlich sind das verdammt gute Musiker. Klar kann Alex Varkatzas growlen, Dan Jacobs verdammt geile Riffs spielen und Brandon Sailer kann singen. Trotzdem packt mich das nicht mehr. Neuere Songs wie „So Others May Live“ stoßen mich eher ab. Übrigens, wen es interessiert: ATREYU haben nach eigenen Angaben hart gearbeitet und bringen dieses Jahr noch ein neues Album heraus.

KNAPSACK gehören als Helden der Neunziger zur eben beschriebenen zweiten Kategorie. Der Tatsache, dass die Band trotz der kurzen Hochphase und der professionellen Musikvideos 2015 doch eher was für die Nerds und Musikliebhaber ist, ist es vielleicht „geschuldet“, dass die Band auf der vierten Bühne ohne Absperrung spielt. Das ist jedoch genau richtig so. Als jemand, der sich nie großartig mit KNAPSACK beschäftigt hat, weiß ich nach dem Auftritt, was ich nachzuholen habe. Gut vorstellbar für mich, dass die Band zu Zeiten, in denen die Smahing Pumpkins „Mellon Collie..“ und „Siamese Dream“ heraus gebracht hatten, ein gutes Standing hatte, als sie sich 1993 gründete. Da war ich aber leider erst drei. Also kann ich nur die konservierte KNAPSACK-Erfahrung zwanzig Jahre später miterleben, doch auch die ist lohnenswert. Die Band um Blair Shehan wird herzlich, aber nicht überschwänglich empfangen. Das Zelt ist gut, aber nicht mal ansatzweise vollends gefüllt.

Interessant anzusehen ist es für mich auf dem diesjährigen Groezrock neben den alljährlichen Reunions und Comebacks auch, wie groß manche Bands inzwischen geworden sind, die ich quasi von Anfang an miterlebt habe. Dazu zählt neben Stick to Your Guns und Basement auch CEREMONY, die nach dreijähriger Europa-Abstinenz mit einem neuen Album in der Hinterhand zurück sind. Über diese Band könnte man wahrscheinlich ein ganzes Buch schreiben, und über ihren charismatischen Frontmann Ross Farrar auch noch eins. Konsequent wie kaum eine andere Band haben CEREMONY schon immer die Neuerfindung ihrer Band auf jedem Album zelebriert und einen Fick auf jegliche Erwartung gegeben. Was bei „Rohnert Park“ noch verdammt cool war, führte mit „Zoo“ zur Abspaltung einer großen Fangruppe, die davon enttäuscht war, dass dieses Album mit den Powerviolence-Wurzeln der Band so kaum noch was gemeinsam hatte. Auf dem neuen Album der Band „The L-Shaped Man“ (wird ebenfalls auf Matador veröffentlicht) ist dies endgültig komplett verschwunden und man huldigt nun ungeniert Joy Division, wie die beiden vorab geposteten Songs „The Understanding“ und „The Seperation“ bereits angedeutet haben. Die große Frage vor der anstehenden Tour war also: Wie zur Hölle wollen CEREMONY ihre alten Songs mit den neuen vermischen? Das war doch nach „Zoo“ schon irgendwie seltsam. Und ja, irgendwie ist es auch eine Mischung aus erfrischend und verdammt seltsam, als dann zu Beginn des Sets erstmal zwei brandneue Lieder gespielt werden, bis dann „Kersed“ einsetzt und den ersten Riesenabriss des Wochenendes auf den kleinen Bühnen einleitet. Farrar ist von Anfang an oben ohne und erinnert bei den neuen Songs, was ihm sicherlich auch bewusst ist, durch seine stoische Art schon irgendwie an Morrissey. Seine Bariton-Stimme bei den neuen Songs erinnert an Ian Curtis oder Interpols Paul Banks. Und früher dachte man immer das sei der Henry Rollins unserer Generation. Wie auch immer. Am besten nimmt man ihn wahrscheinlich als Ross Farrar hin, eine bemerkenswerte und sicherlich auch teilweise mysteriöse Figur die aus dem überschaubaren Hardcore-Kosmos stammt, aber vielleicht ähnlich wie ein Wes Eisold oder ein Henry Rollins zu „etwas größerem“ berufen ist. Was alle die genannten Personen verbindet sind jedenfalls lyrischer Tiefgang und eine Art, die Massen irgendwie in ihren Bann ziehen kann. Ich wüsste nur allzu gerne, was in Farrars Kopf vor sich geht, als er sieht, wie die Hardcore-Kids die Songs von der „Violence Violence“ abfeiern und total ausrasten, sodass sich auf der Bühne Menschenknubbel bilden. Ob er das belächelt oder immer noch total geil findet. Wenn er das denn mal tat. Anhand seiner Reaktion lässt sich nichts ablesen. Jedenfalls ist der Auftritt faszinierend, wird von manchen Konzertbesuchern im Nachhinein als der beste des Groezrocks 2015 betitelt und hinterlässt bei mir einen tagelangen Ohrwurm – „The Seperation“.

Wenn es eine Band gibt, bei der der Vergleich zu Ceremony nahe liegt, dann ist das TRASH TALK. Keine der ehemaligen oder derzeitigen Powerviolence-Bands hat es je auf derartige Ebenen geschafft wie diese beiden. Nur dass TRASH TALK sich nie von ihrer unbändigen Wut abgewandt haben. „No Peace“ ist sicherlich weniger angepisst als noch „Walking Disease“ oder die selbstbetitelte LP, aber dennoch hat die Band um Lee Spielman bis heute ihre von Grund auf punkige Attitüde authentisch aufrechterhalten. Ob durch Kollaborationen mit Odd Future oder das Abwerfens einer Kameradrohne mit einer Bierdose. Und obwohl TRASH TALK gerade in einem Tourpaket durch Europa unterwegs sind, bei dem sich die Fußnägel eines jeden Fans der ersten Stunde nach oben rollen (Deez Nuts und Stick to Your Guns), hinterlassen sie auf dem Groezrock einfach nur ein Schlachtfeld und bringen jeden Zweifler zum Schweigen und zum Staunen. Als bei dem ersten Song recht wenig abgeht, kündige Lee bereits an, dass er sich damit nicht zufrieden gibt, und dass jeder, der TRASH TALK irgendwie kennt, das auch weiß. Dann wacht Meerhout langsam auf. Beim dritten Song „Manifest Destination“ kommt ein beachtlicher Circlepit zustande, worauf mit „The Great Escape“ ein neuer Song folgt. So weit so gut. Doch irgendwann nimmt die Show Fahrt auf und gerät völlig außer Kontrolle. Und das, obwohl Spielman nach eigener Aussage nur kontrolliertes Chaos mag. Das was dort passiert, ist teilweise einfach nur verstörend. Sicherlich ist es auch unterhaltsam und meiner Meinung nach sehr cool, als Spielman die obligatorischen Stage-Potatoes auf beiden Seiten der Bühne fragt „Who the fuck are you? I don‘t know any of you motherfuckers.“. Oder als er das ganze verfickte Zelt auffordert, sich hinzusetzen und sich dabei auch trotz uneinsichtigen Reaktionen nicht beirren lässt und den Widerspenstigen ins Gesicht brüllt. Aber als dann bei „Birth Plague Die“ alle Leute auf die Bühne gefordert werden, und sich dann auf eben jener die Leute türmen, verteilt Spielman gar Ohrfeigen und Tritte. Das kann man natürlich geteilter Meinung sehen, wenn nicht eindeutiger Meinung, dass das ganz schön scheisse ist. Jedenfalls bedankt er sich einige Minuten nach dem Abriss noch ganz höflich bei den Fans.

Von denen die meisten schon weitergezogen sind, entweder zur Main Stage zu Pennywise, oder um TITLE FIGHT auf der vierten Bühne nebenan zu sehen. Das war eindeutig die schwerste Entscheidung meines Wochenendes, aber ich entschied mich dann doch für die Band um Ned Russin, einfach weil ich sie seit dem Release ihrer neuen Platte „Hyperview“ zuhause nochmal richtig viel gehört hatte, und Pennywise eben seit Jahren nicht mehr so intensiv. Gleich nach den ersten beiden Songs, „Murder Your Memory“ und „Shed“, war ich mir meiner Entscheidung dann doch sicher. Die Stimmung vor der vierten Bühne, auf der TITLE FIGHT heute sogar Headliner sind, ist sehr gut, fast schon entspannt, passend zu den Klängen von „Hyperview“. Die Sonne ist eben untergegangen, was auch sehr gut zur Atmosphäre passt. TITLE FIGHT singen die Zuschauer quasi mit ihren verträumten neuen Songs wie „Chlorine“, „Hypernight“ oder „Your Pain is Mine Now“ fast in den Schlaf, nur um sie dann mit alten Hits wie „27“ oder „Leaf“ wieder wachzurütteln. Präsentiert wird einem wirklich nur das Beste der drei Alben, wobei ganz altes Material leider komplett ausgespart wird. Die ganz neuen Songs, die auf Platte relativ schwach auf der Brust wirken und bei der fast nur Jamie Rhoden singt, kommen live doch besser rüber als befürchtet. Und mit „Head in the Ceiling Fan“ und „Sick Society“ macht man zum Schluss des Sets auch alles richtig. Die wehmütigen Gedanken an Pennywise haben TITLE FIGHT mir mit diesem Auftritt gänzlich verdrängt.

Zurück auf Bühne 3 heißt der Headliner am heutigen Abend DEFEATER. Im Gegensatz zum immensen Erfolg von Title Fight hätte man sich das vor circa fünf Jahren schon etwas besser vorstellen können. Zum einen weil DEFEATER bereits auf ihrem Debütalbum melodischen Hardcore von der technisch feinsten Seite präsentierten, zum anderen weil die Band bereits vor fünf Jahren frenetisch auf dem Groezrock abgefeiert wurde. Auch auf der dritten Bühne, mit gerade mal dem Debütalbum und der „Lost Ground“-EP im Gepäck, inklusive endlos vielen Stagedives und dem legendären Stromausfall (bzw. Strom abdrehen des Soundmanns, weil die Band eine Zugabe spielen wollte). 2015 hat sich das Zelt bis auf den letzten Zentimeter gefüllt und DEFEATER dürfen kurz vor Social Distortion nochmal die ganze Aufmerksamkeit für sich haben. Sicherlich ist für viele jüngere Leute der eigentliche Headliner des Freitagabends nicht mal relevant und so verausgaben sie sich jetzt nochmal so richtig. Mit „Brothers“ startet das Set allerdings ganz langsam und akustisch, bevor es dann mit „The Red, White and Blues“ richtig losgeht. Und man merkt: Da hat sich was getan bei der Band aus Boston. Sänger Derek Archambault scheint seine Hüft-Operation gut überstanden zu haben, ist aber nach wie vor kein herumhüpfendes Energiebündel. Das würde allerdings zur atmosphärischen Musik von DEFEATER auch kaum passen. Doch auch stimmlich ist Derek nicht ganz der Alte. Seine Schreie hören sich wesentlich tiefer und geübter an, als noch auf den Touren vor einigen Jahren. Das weicht zwar leicht von den Aufnahmen ab, ist aber sicherlich ganz gut, um seine Stimmbänder zu schonen und nach einigen Wochen noch etwas heraus zu bekommen. Geboten wird ein Querschnitt aus allen Veröffentlichungen, mit „Blessed Burden“ vom Debütalbum, „A Wound and Scar“ von der EP, „Empty Glass“ und „Dear Father“ vom zweiten Album und selbstverständlich mehreren Songs vom letzten Album „Letters Home“, zum Beispiel „Rabbit Foot“ oder das einprägsame „Bastards“. Auch die Band aus Massachusetts zeigt sich äußerst dankbar und geehrt, verschwendet aber kaum wertvolle Zeit für ausgiebige Ansagen. Nach dem perfekten Rausschmeisser „Cowardice“ wird dann nochmal ein Teil von „Bastards“ wiederholt, den gefühlt das ganze Zelt unisono mitbrüllt. Ein neues Album ist auf dem Weg, man darf gespannt sein. Wer von dem Konzept der Storyline, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird, so langsam genervt ist, sollte sich keine zu großen Hoffnungen machen. Doch genau das macht den Reiz dieser Band aus, ein bereits zur Gründung von DEFEATER einigermaßen feststehender Rahmen, der alle Werke miteinander verbindet.

SOCIAL DISTORTION sind dann für viele noch das Schmankerl zum Schluss, allerdings ist das Zelt der Main Stage deutlich weniger gefüllt, als man es hätte erwarten können. Ich meine mich gar feststellen zu können, dass ich noch nie einen Groezrock-Headliner gesehen habe, bei dem die Reihen sich so gelichtet hatten (nach sieben Editionen seit 2008). Das hat auch irgendwo seinen Grund: Klar haben SOCIAL DISTORTION nicht nur für Leute über 30 irgendwie einen gewissen Kultcharakter, sicherlich gehören sie zu den größten Namen des Punkrock-Genres, aber dennoch nehmen viele die Band meines Eindrucks nach nur mal so im Vorbeigehen mit oder schenken sich gleich die Show und gehen schon auf den Campingplatz. Was passiert, ist jedenfalls nicht besonders spannend, die Bühnenbewegung der Band erinnert an Bad Religion und Songs wie „Story of My Life“ oder „Ball and Chain“ können für jemanden, der kein bekennender Fan ist, auch einfach rüberkommen wie ein langweiliger 3-Akkord-Punkrock-Brei, der nochmal extra weich gespült und mit Country-Ansätzen angereichert ist. Kann gut sein, dass Mike Ness mal eine verdammt coole Sau war. Oder immer noch ist. Mich jedenfalls kann er heute mit seiner Kapelle SOCIAL DISTORTION überhaupt gar nicht begeistern.

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SAMSTAG

Am Samstagmittag ist NO TURNING BACK die erste Band, die ich mir anschaue. Und das leider auf der Impericon-Stage, um die ich gestern zum Glück einen Bogen machen konnte. Ich habe in all den Jahren Groezrock die Erfahrung gemacht, dass der Sound auf dieser Bühne meistens eher bescheiden ist (ich erinnere mich da insbesondere an die schrecklichen Verhältnisse bei I Killed the Prom Queen letztes Jahr), und vermeide sie daher gerne. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Kapellen auf der zweiten Bühne mich ohnehin nicht interessieren (ungefähr alle Bands, die auch bei Impericon ihre knallbunten Shirts und Meshshorts verkaufen), ist das auch meist kein großes Problem. Doch aus welchem Grund auch immer sind NO TURNING BACK dieses Jahr auch in diesem riesigen Zelt gelandet, in dem sich zwischen Bühne und Fans ein großer Graben befindet. Sänger Martijn merkt man an, dass ihm das irgendwie so gar nicht passt. So nutzt er fasst jede Gelegenheit, um in Interaktion mit der Menge zu treten. Was meine Sound-Befürchtungen betraf, bewahrheitet sich diese auch heute, wodurch grundsolide Hardcore-Songs wie „I Rise“ oder „Keep Your Guilt“ heute deutlich weniger Spaß machen. Für die fünf Jungs aus Brabant hat das Groezrock vielleicht leichten Heimspiel-Charakter, schließlich kommt man aus dem Nachbarland und war bereits einmal Teil des Line-Ups. Bassist Andre spielt zu diesem Anlass seine letzte Show für die Band, die Fans rasten ihm zuliebe in Form eines Circle Pits nochmal so richtig aus. Für NO TURNING BACK hat die Zwangsverweisung auf die zweite Bühne immerhin den Vorteil, dass sie eine riesige Anzahl an Leuten beschallen dürfen. Das Set ist größtenteils mit brandneuen Songs gefüllt.

Aktueller als die holländische Band, die mit „Never Give Up“ dieses Jahr bereits ihr achtes Album herausgebracht hat, sind TURNSTILE aus den Staaten. Bei der Band um Trapped Under Ice Drummer Brendan Yates handelt es sich, da würde wohl kaum jemand wiedersprechen, um den zurzeit vielleicht gefragtesten Hardcore-Act auf dem europäischen Festland. Das hat auch seinen guten Grund, denn nach einer makellosen Tour im Spätsommer 2014 mit Angel Du$t, im Zuge derer auch der perfekte Auftritt auf dem Ieperfest hingelegt wurde, konnten TURNSTILE auf der Persistence Tour zu Beginn des Jahres mit Sick of It All, Walls of Jericho und Konsorten wichtige Erfahrung im Umgang mit großen Zuschauermengen sammeln und weiter an ihrem Live-Set schleifen. Den Fortschritt bemerkt man auf jeden Fall. Die Songs gehen noch besser ineinander über, auch die Pausen werden gut und showdienlich gefüllt und das Set wird mit erneut mit einem Bad Brains Cover („Sailin On“) abgerundet. Ein solches Energiebündel wie Brendan hat man selten gesehen. Er ist im Prinzip der perfekte Hardcore-Frontmann, sympathisch und ausdauernd, und er weiß mit der Crowd umzugehen. Jeder Song wird abgefeiert, insbesondere ältere Kaliber wie „Keep It Moving“, „Pushing Me Away“ oder „The Things You Do“. Doch auch „Gravity“ und „Drop“ haben sich schon längst in den Gehörgängen der Fans festgesetzt und sorgen live für pausenlosen Abriss. Lediglich mit „Blue By You“ wird mal kurz die Luft heraus genommen, doch selbst dieser Song erscheint nicht als Fremdkörper und motiviert einige Leute zum stagediven. Auch „Out of Rage“, der an die frühen Rage Against the Machine erinnert, ist mal ein guter Kontrast zu dem typischen TURNSTILE-Song und wird trotzdem gut angenommen. Bei „Death Grip“ tobt dann das ganze Zelt, trotz Hitze und Dreck vor der Bühne. Was eine Party.

REIGN SUPREME können hingegen dem Hype vergangener Tage nur noch hinterher träumen. Auch wenn sie bei ihrem Live-Auftritt zu keiner Zeit einen enttäuschten oder geknickten Eindruck machen, ist das Zelt der vierten Bühne um kurz nach fünf vor allem unmittelbar vor der Band deutlich leerer als man hätte erwarten können, und auch deutlich leerer als bei jeder anderen, die ich mir dort angesehen habe. Auch Jay Pepito hat im Grunde genommen alles, was ein guter HC-Frontmann braucht, er ist charismatisch und energetisch, seine Stimme ist solide und trainiert, er rennt die Bühne rauf und runter. Doch an dem abgeflachten Interesse an REIGN SUPREME können auch er nichts ändern und macht anstelle dessen einfach das Beste draus. „American Violence over Europe“ ist das Motto der diesjährigen Tour des Vierers aus Philadelphia. Man kann also erahnen, dass der Fokus diesmal auf älteren Songs liegt. Diese sind sehr moshbar, aber anscheinend auch nicht mehr allzu vielen Leuten geläufig. REIGN SUPREME waren der riesigen Welle an moshigen Bands leider etwas voraus. Pepito greift sich jeden Fan, der mal ein paar Zeilen kennt und bemüht sich redlich, dem Groezrock eine gute Performance zu bieten. Das kann man von seinen Kollegen allerdings nicht gerade behaupten, denn diese spielen einfach routiniert ihr Zeug runter. Neben einem Integrity-Cover sind es „Apostle“, „Iscariot“ und „To a Dead God“ die Highlights, gegen Ende des Auftritts wird die Fanbeteiligung etwas mehr, was vielleicht auch daran liegen mag, dass Jay Pepito kurz zuvor für ein Foto mit seinem Selfie-Stick die Leute vor die Bühne gebeten hat. Nach dem Set schreien noch Einige ihre Wünsche nach vorne, „And Come What May“ oder „A Ghost in This City“ beispielsweise, doch dies bleibt leider unerhört. Auf Material der neusten EP wird komplett verzichtet, REIGN SUPREME haben es also ernst gemeint mit dem Motto ihrer Tour.

Mit gemischten Gefühlen stapfe ich zu RAISED FIST zurück zur zweiten Bühne. Die Schweden haben Anfang des Jahres ihr neues Album „From the North“ herausgebracht, an welchem ich nach einigen Durchgängen schon ziemlich Gefallen fand. Ihre ganz wilden Zeiten scheint die Band aber nach „Dedication“ endgültig hinter sich gebracht zu haben. Daher wundert es nicht, dass die 45 Minuten Stagetime fasst ausschließlich mit Songs der letzten drei Alben gefüllt werden. „Sound of the Republic“ dient als Eröffnung, und generell greifen RAISED FIST häufig auf ihr ebenso betiteltes neun Jahre altes Album zurück, das vielleicht das Meisterwerk in ihrer Diskografie darstellt. Von dem 2009 erschienenen „Veil of Ignorance“ ist so manch einem Fan vielleicht nur noch „Friends & Traitors“ geläufig, doch „From the North“ bietet einige Lieder, die Hymnen-Potenzial haben. Da wäre zum Beispiel „Flow“, das mit einem groovigen Drumpart einsetzt und einen starken Chorus bietet, oder „Man & Earth“, das vor allem durch den starken Text überzeugt. Dass jedermann versteht, was Ale Hagman meint, als er vor dem Song „We are all traitors“ wiederholt, wage ich zu bezweifeln, doch wenn man sich mal mit den Lyrics des neusten Albums beschäftigt, merkt man, dass akute Themen wie die globale Erderwärmung den Schweden mehr als nur am Herzen liegen. Genau wie bei den betont politischen Kollegen von Stick to Your Guns kann man da nur hoffen, dass etwas ankommt bei der Impericon-Crowd. Hagman und RAISED FIST im Generellen tun jedenfalls ihr bestes, nicht nur inhaltlich sondern auch in puncto Live-Show zu überzeugen, und das gelingt ihnen auch. Die schwedische Band, die inzwischen scheinbar etwas häufiger unterwegs ist als nach vor zehn Jahren (vor allem auf Festivals), mausert sich zur festen Größe auf Veranstaltungen dieser Größenordnung, zu der Speerspitze der europäischen Hardcore- und Metalszene gehören RAISED FIST ohnehin schon lange.

Deutlich gediegener und unverkopfter geht es auf der vierten Bühne zu, auf der Justice Tripp’s neues Projekt ANGEL DU$T kurzfristig eingesprungen ist. Die Band hatte letztes Jahr bereits durch das Debütalbum „A.D.“ und die anschließende Europatour für Aufsehen gesorgt und ist nun dieses Jahr über M.A.D. auf Headliner-Tour, war für einige Tage sogar mit Sick of it All in Spanien und Portugal unterwegs. Die kurzen, punkigen Lieder („Let It Rot“, „Stepping Stone“) gehen schnell rein und bleiben im Gedächtnis, beste Voraussetzungen also für einen denkwürdigen Auftritt auf dem Groezrock-Festival. Zwar fallen ANGEL DU$T für mich soundmässig in eine Kategorie mit der Cold World Show gestern (sprich: dürftig), aber die Meute findet ihren Spaß daran. Tripp lässt die Kids mitsingen und sogar an einigen Stellen komplett das Mikro übernehmen. Mit einer derart kurzen Diskografie können ANGEL DU$T kaum die vierzig Minuten Spielzeit ausfüllen, also beendet die Band schon einige Zeit früher ihr Set, obwohl auch alte Songs wie „Slam“, „Rage“ oder „Extra Raw“ noch gespielt werden. „Set Me Up“ ist genau wie auf der LP das letzte Lied und wird frenetisch abgefeiert.

Nach einer kurzen Verschnaufpause sind die Hardcore-Kids spätestens bei BANE wieder vor der vierten Bühne versammelt. Die ebenfalls aus Massachusetts stammende Band hat letztes Jahr ihr finales Album „Don’t Wait Up“ veröffentlicht und angekündigt, sich bald aufzulösen. Dementsprechend kann sich also jeder glücklich schätzen, der diese wegweisenden Hardcore-Legenden nochmal live erleben darf. Und mit „Final Backward Glance“ nimmt man gleich den meiner Meinung nach stärksten Song des neuen Albums vorweg und startet ins Set. Aaron Bedarf hat sich etwas die Haare wachsen lassen und hüpft wieder in seiner schlaksigen Art und Weise über die Bühne, ohne allzu viele Worte selbst ins Mikro zu singen. Mit „My Therapy“, „Count Me Out“, „Swan Song“ und Konsorten erwartet die Fans wie immer ein mit Hits gespicktes Set, in das allerdings ruhig noch mehr neues Material hätte integriert werden können. Lediglich „All the Way Through“, das die Band nach Bedarf vor allem wegen des moshigen Anfangsparts geschrieben hat und liebt, sowie „Calling Hours“ sind diesmal dabei. Die Setlist lässt trotzdem kaum Platz zum Meckern. Wie immer nimmt sich Aaron Bedard ausgiebig Zeit für seine Ansagen, was ich sehr sympathisch finde. Er spricht unter anderem darüber, dass manche Leute jahrelang ihr Herzblut in die Szene stecken, während andere einfach irgendwann weg sind, für Jahre ohne jegliche Spur verschwinden, dann zurückkommen und einen Klaps auf die Schulter und viel Aufmerksamkeit erwarten. Wieder eine Anspielung in Richtung Refused wie im Jahre 2012 bereits von Scott Vogel?  Man wird es wahrscheinlich nie erfahren. Außerdem führt Bedard aus, dass Basement zurzeit eine seiner Lieblingsbands ist und es für ihn eine Ehre ist, vor den Engländern spielen zu dürfen. Wenn Basement ein wenig was mit der Hardcore-Szene zu tun haben, wovon ich doch mal ausgehe, dürfte sich das wohl wie ein Ritterschlag anfühlen. BANE jedenfalls stellen durch „Can We Start Again“ die Revenge Stage nochmal auf eine Bewährungsprobe, als eine riesige Menschentraube den über 15 Jahre alten Song mitsingt.

Kurze Zeit später sind BASEMENT dann ebenfalls auf der vierten Bühne an der Reihe, und von den ersten Klängen von „Whole“ an gehört die Menge ihnen. Das ganze Zelt ist gefüllt, der Erfolg der letzten beiden Alben ist klar zu sehen und im Falle von BASEMENT kann man wohl wirklich sagen, dass den Engländern ihr Hiatus wirklich sehr gut getan hat. Nach einer US-Tour im letzten Jahr nun eine Show vor derart vielen Menschen auf dem Groezrock – ich frage mich, ob Andrew Fisher und seine Kumpels sich das damals hätten träumen können, als sie im Vorprogramm von More Than Life und Brutality Will Prevail erste Gehversuche auf dem europäischen Festland machten. Egal ob „Fading“, „Pine“, „Bad Apple“, „Spoiled“, oder die brandneuen Songs „Summer’s Colour“ und „Jet“, es fühlt sich stets so an, als würde das ganze Zelt mitsingen. BASEMENT scheinen etwas verdammt richtig gemacht zu haben, als sie „I Wish I Could Stay Here“ und „Colourmeinkindness“ geschrieben haben. Zum Abschluss gibt es dann in Form von „Covet“ wohl den schönsten Pixies-Ripoff aller Zeiten, bevor dann die Revenge Stage im Einklang zu „Crickets through their voice“ die Textzeile „I wish I could stay here“ jault. Das glaubt man doch auf’s Wort.

AS FRIENDS RUST ist dann eine der Bands für die älteren Semester, die sich schon seit längerer Zeit nicht mehr in Europa hat blicken lassen (7 Jahre) und auch lange kein neues Material mehr heraus gebracht hat. Für das Groezrock 2015 ist die Kapelle exklusiv in Europa, und in Hinsicht auf diese Tatsache muss man leider sagen, dass das Zelt der dritten Bühne trotz Co-Headliner-Slot auf selbiger nur recht spärlich gefüllt ist. Obwohl AS FRIENDS RUST von Anfang an in die Vollen gehen dauert es etwas, bis auch die Fans mitgehen und so ist es, wer hätte es anders erwartet, „Coffee Black“, der endgültig das Eis bricht und die Singalong-Messlatte für diesen Auftritt auf das Höchstmaß legt. Natürlich hinkt der Vergleich deutlich, aber der Gig von Damien Moyal’s anderer Band Morning Again im letzten Jahr kam früher in Fahrt und wurde irgendwie auch frenetischer und dauerhafter gefeiert. AS FRIENDS RUST nehmen hingegen viele nur im Vorbeigehen oder aus den letzten Reihen mit, was sich vielleicht durch die deutlich ruhigere und melodischere Art der Musik erklären lässt, die fast schon gediegen den Samstagabend einleitet und für die wahren Headliner anheizt. „More Than Just Music, It’s a Haircut“ zum Ende des Sets ist dann nochmal ein wahres Highlight und setzt dem durchweg sympathischen, aber nicht zu jeder Sekunde unterhaltsamen Auftritt von AS FRIENDS RUST ein Finale. 

MAKE DO AND MEND könnten sich unter Umständen selbst über den Headliner-Slot auf der vierten Bühne wundern, haben dafür aber das Problem, zeitgleich mit Millencolin in den Startlöchern zu stehen. Trotz der gemeinsamen Schnittmenge der beiden Punkbands stehen immer noch ordentlich Leute im Zelt, wenn auch nicht ganz so viele wie zuvor bei Bane oder Basement. Ich bin leider absolut kein Fan der neusten beiden Alben, insbesondere den neusten Streich „Don’t be Long“ empfinde ich als eindeutig langweiligstes und unspektakulärstes Werk ihrer Diskografie, dementsprechend ist es kein Wunder, dass mich der Auftritt zwar zufriedenstellt, aber nicht mehr. Denn die neuen Songs wie der Titeltrack von „Don’t Be Long“ oder „St. Anne“ plätschern eben so dahin, ohne dass viel passiert. Auf Stagedive-Ekstasen wie bei den Gnarwolves, bei Title Fight oder Basement hofft man hier vergebens. Eher bieten MAKE DO AND MEND einen Soundtrack für angereiste Paare, die sich kurz vor Ende des Festivals nochmal Arm in Arm liegen und schunkeln wollen. Etwas schnellere und rockigere Klänge bieten immerhin „Unknowingly Strong“ und „Oak Square“, sodass auch Fans des älteren Materials ein wenig bedient werden.

Mit großer Spannung wurde im Vorfeld des Groezrock die Rückkehr von AMERICAN NIGHTMARE erwartet. Nach einigen Shows in England bekommt man in Belgien die erste Festland-Europa-Show seit ihrer Auflösung im Jahr 2004 serviert. Ohne viel Schnickschnack oder ein Intro geht die Band um Wes Eisold sofort mit „Love American“ in die Vollen, und tut dem chaotischen Miteinander auch für die nächsten 35 Minuten keinen Abbruch mehr. Während er komplett auf Ansagen verzichtet, interagiert Eisold umso mehr mit den textsicheren Fans. Er lässt die punkigen, schnellen Songs für sich sprechen und dreht während eines Songs sogar mehrere Minuten am Stück den Fans den Rücken zu, anstatt irgendwelche Ansprachen zu halten. Die Menge stagedivet und singt mit, ich hätte jedoch etwas mehr erwartet, als dann tatsächlich der Fall ist. An die Comebacks von Modern Life is War letztes Jahr und von Verse auf dem Groezrock 2012 kommen AMERICAN NIGHTMARE in Sachen Crowd Response nicht ran, wobei die Show keineswegs eine schlechte ist. Höhepunkte des Auftritts sind neben „Love American“ auch „There’s a Black Hole in the Shadow of the Pru“, „AM/PM“ und „Shoplifting in a Ghost Town“. Mit “Fuck What Fireworks Stand For” warden Fans der ersten Stunde beglückt. Um den Auftritt von AMERICAN NIGHTMARE mit wenigen Worten zu beschreiben: Wild, schnell, ungeschliffen. Und dann doch irgendwie verwirrend, dass Eisold so gar nichts gesagt hat. Ich kann leider nicht beurteilen, ob die Band das früher schon so gehandhabt hat.

Über REFUSED als Headliner des Samstagabends kann ich leider nicht berichten, da meine Mitfahrer allesamt schon früher Richtung Heimat starten wollten. Entschuldigung dafür.

Unter dem Strich hat das Groezrock Festival auch 2015 wieder gezeigt, warum es weltweit den Ruf als eines der besten Punk- und Hardcore-Festivals überhaupt hat. Jedes Jahr auf’s Neue denke ich mir „Ach, eigentlich ist das doch schon alles zu groß und kommerziell aufgezogen“ und dennoch schafft es das Groezrock, mich mit einem unvergleichlich guten Line-Up nach Belgien zu locken. Für Leute, die mit Punkrock aufgewachsen sind, auch mal eine Metalcore-Phase hatten und die aktuellen Bands in den Genres Hardcore und Punk weiterhin verfolgen, ist es nun mal das Schlaraffenland schlechthin.