15.07.2012: Defeater, Former Thieves, Code Orange Kids, The Tidal Sleep - MuK, Gießen

15.07.2012
 

 



Als Defeater im Frühjahr 2011 das MuK in Gießen bespielt hatten, war im Nachhinein die Rede vom „besten Hardcore-Konzert, das dort je stattgefunden hat“. Die ebenfalls aus Boston stammenden Have Heart dürften sich bei einem solchen Statement sicherlich im Grabe herum drehen. Ob da 2012 noch was draufgelegt werden kann?

Heute gibt es ohne irgendwelche Umwege bereits den Hauptgang: Ohne eine weitere Vorband steht um 20.45 mit THE TIDAL SLEEP die erste Kapelle auf der Bühne. Man könnte vielleicht fälschlicherweise angenommen haben, dass es sich hierbei um eine Supportband handelt, da die Jungs aus Karlsruhe und Mannheim kommen und erst seit 2011 zusammen musizieren. Dem ist aber nicht so. Die Jungs geben momentan einfach Gas wie keine zweite nationale Band. Die Zusammenarbeit mit Avocado Booking und diese erste größere Tour mit 3 internationalen Bands dürften THE TIDAL SLEEP schon bald zu größerem Ruhm verhelfen, in vielen Internetforen und Websites werden sie bereits als Geheimtipp gehandelt. Davon können über 90% der deutschen Bands nur träumen. Doch wo besteht der Unterschied? Was machen sie besser? Der leere Halbkreis vor der Bühne spricht für sich – noch kaum jemandem ist das hier bisjetzt ein Begriff. Die Live-Performance allerdings haut mich komplett aus den Socken, der tosende Applaus ist Indiz genug dafür dass ich nicht der Einzige bin. THE TIDAL SLEEP legen eine Professionalität an den Tag, von der eben erwähnte 90% der deutschen Bands ebenfalls nur träumen können. Als ich mir die Songs auf bandcamp angehört habe, fand ich das gut. Gezündet hat es aber nicht so richtig. Live ist das anders. Zunächst einmal bin ich total verwundert, wie man eine dermaßene Sounddichte mit nur vier Bandmitgliedern (sprich einer Gitarre) zustande bringt. Während der Bass und die Drums in feinster Hardcore-Manier die meiste Zeit nach vorne preschen, wirkt die Gitarrenarbeit wesentlich verspielter und atmosphärischer. Die Mischung geht wesentlich besser auf, als man vielleicht vermutet. Dazu der verzweifelte Schreigesang des Sängers, der an keiner Stelle auch nur ansatzweise patzt. Man merkt, dass hier alle vier bereits zuvor in Bands gespielt haben. Auch an Bewegungsfreude mangelt es überhaupt nicht. Etwas weniger als eine halbe Stunde lang gibt es also das Material der selbstbetitelten Platte auf die Ohren, unter anderem „Serpent Hug“ und „Thrones“. Ich hatte im Vorfeld oft gelesen, dass THE TIDAL SLEEP so etwas wie die deutsche Version der Wave-Bewegung sind. Die Vergleiche mit Touché Amoré, La Dispute und vor allem mit Pianos Become The Teeth greifen in der Tat gut. An keiner Stelle hat man jedoch den Eindruck, hier wäre irgendwas ein Abklatsch oder nur zusammen geklaut. Zwei weitere Punkte, die die Karlsruher und Mannheimer Jungs von der grauen Masse der deutschen Hardcore-Bands abheben: Eigenständigkeit und Authentizität. Gerade in Zeiten, in denen die deutsche Hardcore-Zukunft eher mau aussieht (Ritual lösen sich bald auf, Black Friday 29 haben manche vielleicht bereits vergessen, es gibt zusammenfassend gesagt kaum Bands die in ganz Deutschland und auch über die Ländergrenzen hinaus Anerkennung finden) sind THE TIDAL SLEEP unglaublich wichtig. Unbedingt reinhören und im Auge behalten! Die Band hat vor kurzem neues Material aufgenommen.

Nach dieser guten Aufwärmung folgt meiner Erwartung nach der größte Abriss des Abends. The Tidal Sleep fallen noch unter die Kategorie Geheimtipp, bei den CODE ORANGE KIDS hingegen kann man spätestens seit dem Deathwish-Signing sicherlich schon das Unwort „Hype“ in den Mund nehmen. Ein Blick auf die Bühne verrät, dass es sich hier wirklich um Kids handelt. Die 4 Pennsylvanier liegen zu hundert Prozent unter dem heutigen Altersdurchschnitt. Auch hier also die Frage: Wie haben sie das geschafft? Wie The Tidal Sleep gezeigt haben, will gut Ding in den allermeisten Fällen Weile haben. CODE ORANGE KIDS also ein weiterer Ausnahmefall. Von der ersten Minute an glänzen die 3 Jungs und das Mädel mit einer atemberaubenden und mitreissenden Intensität. Von Hardcore im strengen Sinn kann hier nicht die Rede sein, viele Elemente des Sludge und des Mathcore ziehen sich durch die meist eher kurzen Songs, die vor allem durch ihre Unberechenbarkeit gekennzeichnet sind. Man verzichtet auf große Ansagen und zieht in brutaler Weise mit viel Körpereinsatz aber dennoch sehr präzise das Set durch (das barfuß-Gestampfe auf den Bühnenboden muss geschmerzt haben). Oft folgen schnelle Parts auf betont langsame Downtempo-Parts, in denen die wenigen Leute vor der Bühne sich eindeutig besser und mehr zur Musik bewegen können. Trotz des jungen Alters gibt es keine Spur der Aufgeregtheit oder der Zurückhaltung. Der Dreifach-Gesang von den beiden Gitarristen und dem Schlagzeuger verleiht dem Sound noch mehr Druck. Auch auf eine Abschiedsrede wird verzichtet, nach einer knappen halben Stunde verlassen die Musiker einfach die Bühne und lassen ihren Auftritt unkommentiert auf die Leute wirken. Mein Fazit: Beeindruckend! Würde mich nicht wundern, wenn die bald wieder durch Europa touren.

FORMER THIEVES wurden in dieses Tour-Lineup recht kurzfristig als Ersatz für All Teeth aufgenommen, die sich leider vor kurzer Zeit aufgelöst hatten. Musikalisch finde ich beide Bands sehr gut vergleichbar, sodass der Ersatz wirklich adäquat gelungen ist. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass All Teeth ein wenig mehr Publikumsbeteiligung bekommen hätten. Wie auch bei den beiden vorherigen Bands der obligatorische leere Halbkreis vor der Bühne. Auch damit war zu rechnen. Die Band punktet bei mir vor allem in Sachen Kleidungsstil (der Sänger trägt beispielsweise ein gelbes Tanktop und eine Badehose), musikalisch will der Funken bei mir aber nicht überspringen. Das Ganze packt mich nicht so, wie das The Tidal Sleep und die Code Orange Kids getan hatten. Der Sound der FORMER THIEVES ist etwas undurchsichtig, was nicht heißen soll, dass die Musiker es nicht drauf hätten. Jedoch gehen durch die Tatsachen, dass auch hier nur eine Gitarre am Werk ist und außerdem der effektverzerrte Bass sehr laut dröhnt sicherlich viele Elemente der Lieder etwas unter. Die Band hat jedoch scheinbar mit dem geringen Anklang gerechnet und zeigt sich trotzdem außerordentlich dankbar und spielfreudig. Man zeigt sich auch den Tourkollegen über äußerst loyal und widmet allen 3 Bands jeweils einen Song und fordert Applaus für sie ein. Das Set plätschert so vor sich hin, mehr als Kopfnicken und Fußwippen ist den meisten Zuschauern nicht abzugewinnen. Vielleicht auch Ermüdungserscheinungen? Der Großteil der Leute im MuK wartet schlicht und ergreifend schon den ganzen Abend nur auf Defeater.

Die Plätze vor der Bühne sind daher bereits vor Beginn des Sets heiß begehrt. Nach einer etwas ausgedehnteren Pause und einem gründlichen Linecheck geht es dann mit „The Red, White and Blues“ sofort los, die Menge braucht keine zwei Sekunden um auf 180 zu sein. Das MuK wirkt wie aufgetaut, auf einmal kann hier jeder mitsingen und gestagedivet wird auch. Als wären DEFEATER die letzten Jahre nicht oft genug in Deutschland auf Tour gewesen. Diese Erfolgsgeschichte scheint kein Ende zu nehmen, und das ist auch gut so. Man weiß ja wie es um die Halbwertszeit von Hardcore-Bands bestellt ist. Die Menge an neuen Songs ist heute erhöht, was nicht groß verwundert: Der Gig mit Carpathian im letzten Jahr war der Eröffnungsgig der Europa-Tour, die das neue Album „Empty Days & Sleepless Nights“ promoten sollte. Auch wenn es kurz davor bereits im Internet aufzufinden war, wäre es taktisch unklug gewesen, zu viele neue Songs im Set zu platzieren. So beschränkte man sich damals auf „Dear Father“ und „Warm Blood Rush“. Heute kommen mit „Cemetery Walls“, „Waves Crash, Clouds Roll“, „Empty Glass“ und „No Kind of Home“ gleich 4 Songs des neuesten Albums dazu. Neu ist außerdem, dass man „I Don’t Mind“ nicht am Anfang, sondern in der Mitte des Sets platziert. Etwas ungewohnt, dennoch singt der ganze Raum mit – ein Mikrofon braucht man da nicht. Sänger Derek bleibt an der Akustikgitarre, als DEFEATER dann auch „But Breathing“ in einer etwas lauteren und härteren Version mit der ganzen Band spielen (inklusive Gitarrensoli). Von der Lustlosigkeit, die ich im Sommer 2011 in Köln wahrgenommen habe heute also keine Spur. Im Gegenteil. Die Bostoner haben sich was einfallen lassen und wissen u überzeugen und die Fans mit einzubeziehen. Dass nach dieser Tour nach Hause geflogen wird um an einem neuen Album zu arbeiten, ist sicherlich die beste Nachricht des Abends. Bleibt zu hoffen, dass es noch mehr als diese 3 Alben werden – 3 gute Alben scheinen schließlich das Limit im Hardcore zu sein. Da DEFEATER aber ohnehin eine Ausnahmeerscheinung im modernen Hardcore sind – was auch heute wieder zu Tage tritt – bin ich diesbezüglich zuversichtlich. Der letzte Song ist „A Wound and a Scar“. Nach lautstarker Aufforderung durch die Fans setzt man dann mit „Cowardice“ nochmal einen drauf und weiß auch 2012 auf ganzer Linie zu überzeugen. Der Abend hat mir gezeigt, dass ich dringend wieder mehr DEFEATER hören muss. Das beste Hardcore-Konzert im Gießener MuK bleibt für mich aber auch nach dem heutigen Abend das von Have Heart, Verse und Shipwreck AD im Sommer 2009.