Interview mit All That Remains

27.12.2010
 

 

All That Remains Gitarrist Mike Martin erzählt vom Worst-Case-Szenario der Musikbranche, verrät welches bandeigene Album er gerne nachbessern würde und ruft alle, die sie für eine Killswitch-Engage-Kopie halten, dazu auf, sich mit Adam Dutkiewicz darüber zu unterhalten.

Ein völlig fertig aussehender Mike Martin kommt die Treppen herunter. Eigentlich ist es fast mehr ein Schlurfen. Ein langsames Schlurfen. Als wäre er gerade geweckt worden, nach einer harten Nacht. Als hätte er eine unausgeglichene Mischung aus zu viel und zu wenig gehabt. Zu viel gefeiert, zu viel Alkohol, zu viel geraucht und zu wenig Schlaf. Mit dieser auf-den-ersten-Blick-Vermutung liegt man falsch. Man wird einfach älter, man wird einfach müder. Und die Schweiz scheint keine komfortablen Ruhezonen zu bieten. Zumindest nicht im Dynamo, einem Jugendzentrum in Zürich. „Sorry für mein Auftreten“, entschuldigt Mike sich zur Begrüßung, „aber es gibt keinen Platz, wo man mal ein bisschen die Augen zu machen kann.“ Der Aufenthaltsraum der Band, eigentlich kein Raum, sondern die Empore über dem Konzertraum. Von Ruhe kann da wirklich keine Rede sein, wenn die Crew wild durcheinander schreiend alles aufbaut und später lautes Geballer vom Konzert dort zu hören sein wird. Kein Wunder also, dass Mike am späteren Abend immer wieder die Augen zufallen, während er oben auf der Empore sitzt und sich Bleed From Within, Neaera und Soilwork anschaut, bevor er selbst ran muss.

Doch wofür das alles? Klar, für den Spaß am Spielen und die Lust und Leidenschaft im Hier und Jetzt. Aber auf lange Sicht gesehen? „Ich glaube die Musikbranche wird sich immer weiter verändern“, beginnt Mike. Sein Worst-Case-Szenario der Musikwelt sieht so aus: „Ich glaube es wird keine physischen Alben mehr geben. Schuld daran ist das Internet. Es werden vermutlich mehr einzelne Songs veröffentlicht, anstelle von ganzen Alben und das auch nur online. Dann wird’s vermutlich auch nur noch elektronische Musikläden geben, die CD-Abteilungen in Kaufhäusern werden kleiner und kleiner, bis es sie vielleicht gar nicht mehr gibt.“ Immerhin lacht er noch ein wenig dabei, um seine Antwort lockerer zu machen. Aber als er weiter redet, stellt sich heraus: Er ist davon überzeugt, dass es wirklich so kommen könnte. Auch für die Band stellt er eine Zukunftsprognose: „Ich hoffe, dass wir ihn zehn Jahren überhaupt noch eine Band sind. Wir haben bis jetzt fünf Alben gemacht, was ich schon für ein Wunder halte in dieser Musikrichtung. Allerdings ist es auch eine körperliche Frage, ob wir das in zehn Jahren noch machen können, dieses ständige rumtouren.“

Sex mit Jeanne und Spucke von Mike

Was ihm auf jeden Fall bleibt, egal wie es irgendwann kommen wird, sind seine Erinnerungen an verrücktes Bandzeug. An das, was er auf Tour alles erlebt hat. „Es gibt so viele verrückte Sachen, die einem mit der Band passieren. In Finnland hat ein Typ bei einem Meet & Greet Jeanne gefragt, ob sie Sex mit ihm will, in Amerika sollten wir einem Mädel ein Tampon unterschreiben“, erinnert sich Mike lachend und fügt hinzu: „Wenigstens war es noch nicht benutzt.“ Total irritiert war er, als ein männlicher Fan ihn gebeten an, ihn anzuspucken. „Ich habe ihm zehn Minuten lang gesagt, dass ich ihn nicht anspucken werde. Dann fing er echt an richtig zu betteln und ich war so genervt, dass ich es gemacht habe. Und er war danach so glücklich. Ich kann einen Typen glücklich machen in dem ich ihn anspucke. Wie krank ist das denn?“, sagt er kopfschüttelnd.

Auch wenn er solche Spuckaktionen nicht zur Fannähe zählt, einige Fans tun das anscheinend. Doch die Nähe zu den Fans ist in der Szene extrem wichtig, erklärt Mike: „Wir sind die Typen, die von der Bühne zur Bar gehen und noch was mit Fans trinken und sich mit ihnen unterhalten. Wenn da später noch Fans vorm Bus stehen und Autogramme wollen, darfst du auf keinen Fall denken «dafür bin ich zu cool, das mache ich jetzt nicht». Du musst dich menschlich und greifbar machen. Wir können das, weil wir keine große Rockband sind, die immer von Security bewacht wird und nur in riesigen Hallen spielt.“

Egal wie viele interessante und komische Leute man kennenlernt, egal wie spaßig eine Tour auch ist, etwas fehlt. Die Privatsphäre und die Ruhe. „Das ist das Schlimmste. Ständig muss man sich und seine Musik erklären, rumreisen, spielen. Dabei hätte man einfach gerne mal eine Pause und wenn es nur in Form eines Ortes ist, an dem man sich mal zurückziehen kann. Aber auf Tour kannst du das vergessen“, erzählt Mike. Sich und seine Musik ständig zu erklären, macht ihm allerdings nichts aus. Es gehört einfach dazu, findet er. Und es ist besser seine Musik zu erklären, als sie sich von Journalisten erklären zu lassen. „Meiner Meinung nach sind Reviews nicht viel wert. Irgendein Idiot macht dumme Bemerkungen über Sachen, von denen er oft nicht mal den Hintergrund kennt. Da schreiben Journalisten, was wir dachten, als wir unser Album geschrieben haben. Aber wie kann das jemand, der nicht mal dabei war?“, fragt sich Mike. Über All That Remains gibt es tonnenweise Reviews. Über Shows, über Alben, über alles. Trotzdem hat Mike bis jetzt erst eine gelesen, bei der er dachte «wow, da weiß jemand, wovon er redet».

„Adam D. wohnt nur 20 Minuten entfernt und wir sind halt faul“

Der Killswitch Engage Vergleich ist in seinen Augen schon ausgelutscht, wurde schon zu oft herangezogen, wenn jemand mal nicht mehr wusste, was er schreiben sollte. Seine einzige Antwort dazu: „Wir kopieren nicht Killswitch Engage, wir klingen einfach nach Metal. Alle, die was anderes behaupten, sollen zu Adam gehen und sich mit ihm darüber unterhalten. Aber er wird ihnen das gleiche sagen.“ Adam Dutkiewicz bezeichnet er als erste Wahl, weil die Band seine Arbeit mag und aus Bequemlichkeits-Gründen: „Ist doch klar, dass wir ihn nehmen, er wohnt nur 20 Minuten von uns entfernt und wir sind faul“, scherzt Mike. Er selbst sieht das aktuelle Album als Vereinigung von allem was All That Remains bisher gemacht haben, zu einem neuen Ganzen. Ändern würde er an „For We Are Many“ nichts. „Wir sind alle sehr zufrieden mit dem Album. Ich würde stattdessen unser Album „Overcome“ gerne nachbessern. Wir hatten damals für das Album nicht so viel Zeit. Wenn ich es jetzt höre, würde ich gerne die Zeit zurückdrehen und es verändern. Ich kann nicht genau sagen was ich ändern würde, aber es müsste optimiert werden“, kritisiert er das eigene Werk. Für den Schreibprozess von „For We Are Many“ hatten sie dagegen genug Zeit, genug Arbeit. Arbeit, die sich wie echte Arbeit anfühlte. „Wir alle haben ja seit vier oder fünf Jahren keinen richtigen Job mehr. Beim Album schreiben fühlt sich das Musiker sein allerdings an, als hätte man eine geregelte Arbeit. Aber es fühlt sich auch nur so an, bei einer Tour ist das ganze Gefühl wieder im Arsch“, beleuchtet er das Musikerleben.

Dafür hat das Tourleben ja anderes zu bieten. Verrückte Menschen, interessante Gespräche und komische Entdeckungen. Auf der aktuellen Deutschlandtour hat er den dümmsten Bandnamen, den er je gehört hat, gekürt. Den Titel dürfen jetzt We Butter The Bread With Butter tragen. „Das ist doch bekloppt, welche Band nennt sich denn so? Sind bestimmt nette Jungs und dahinter könnte sich ja vielleicht auch eine gute Band verstecken, aber der Bandname klingt dumm. Dafür ich werde ihn wohl nicht mehr vergessen“, erzählt Mike kopfschüttelnd. Da ist ihm der eigene Bandname lieber, wenn auch unspektakulär. Den würde er nicht verändern wollen, genauso wenig, wie das aktuelle Album. Nur das Musikerleben könnte ein wenig optimiert werden. Mehr Pausen und Ruhezonen auf Tour. Man wird ja schließlich älter.