Plattenkritik

Blackfilm - Blackfilm

Redaktions-Rating

Info

Release Date: 03.12.2010
Datum Review: 01.12.2010

Blackfilm - Blackfilm

 

 

Die traurige Geschichte eines Lebens, erzählt durch eines der möglicherweise besten Ambient- und Elektroalben 2010.

Die Wände des Krankenhauszimmers sind weiß und kahl. Die Atmosphäre kalt. Zu hören ist nur das Piepsen der Geräte. Jene Geräte, die den Menschen, um den die 8-köpfige Familie sich versammelt hat, ein paar letzte Minuten am Leben halten sollen. Tränen laufen über Gesichter, andere wagen den Blick nicht zu heben. Nur der Mann im Bett, das älteste Familienmitglied, hat die müden Augen weit aufgerissen, bekommt alles mit, kann jedoch schon lange nicht mehr agieren. Seine weißen, schütteren Haare fallen ihm ins Gesicht. Er schwitzt, der Schweiß tropft von seinen Ohren. Die Familie erzählt Geschichten aus seinem Leben, doch innerlich erzählt er sich seine ganz eigene Geschichte, lässt seine Lebensjahre Revue passieren. Irgendwie muss er ja Abschied nehmen können, wenn er sich schon nicht bemerkbar machen kann.

Reglos liegt er unter seiner weißen Decke. Seine Mutter, Gott habe sie seelig, durfte er niemals kennen lernen. Sein Vater erzählte ihm immer, dass es Komplikationen bei der Geburt gab. Die Technologie und Mittel waren kurz nach dem Ersten Weltkrieg eben noch nicht so ausgereift. In einem Todeskampf brachte sie ihn zur Welt, verlor dabei aber ihr eigenes Leben. Ein schlechter Tausch, fand sein alter Herr. („Come And See“ untermalt den Hass und die Verzweiflung des Vaters, aber auch die Trauer des Sohnes über eben diesen Hass mit seinem panisch jazzigen Schlagzeugspiel und den gruseligen ambienten Klängen im Hintergrund, die sich immer wieder nach vorne drängen wollen, es aber nicht schaffen.) Unter den Schlägen des Vaters wuchs der kleine Junge auf, der Kontakt zu Außenwelt wurde ihm verboten, so auch der Gang zur Schule. Das Einzige, was er kennenlernte, war die Rute und die strafende Hand des Vaters, der ihm den Tod seiner geliebten Frau niemals verzeihen konnte und wollte. Sein Hass war blendend und betäubend.

So wuchs der Junge ohne Namen heran, vergeudete seine Zeit mit nächtlichen Streifzügen durch die kleine Stadt in der er lebte. („Interference“ und „Untitled“ beschreiben die Atmosphäre der Straßen zu nächtlicher Stunde und die Ruhe, die von einer mit Schnee bedeckten Landschaft ausgeht wunderbar. Kaum wahrnehmbare Schrittgeräusche, dargestellt durch das Ausbleiben von Beats, nur leichte Soundlandschaften. Mehr braucht es nicht.) Die Geschichte sollte zeigen, dass ein weiterer Krieg nicht lange auf sich warten ließ. Um seinem Vater zu entkommen, meldete er sich zum Kriegsdienst. Hier erhielt er endlich so etwas wie eine Identität. Und auch die Akzeptanz und den Respekt, der ihm in seiner Kindheit nie zu Teil werden sollte. Später erzählte er seinen Kindern und Enkeln immer wieder, wie stolz er damals war, der Wehrmacht zu dienen, besonders in Russland. Er erzählte, wie sie den Russen, den Hintern aufgerissen hatten und in der Hoffnung eines Sieges des Nächtens ihre Lieder sangen. Von der Schmach, die ihnen in Stalingrad wirklich widerfuhr, erzählte er nichts, ebenso wenig davon, wie peinlich und unverständlich ihm sein bedingungsloser Dienst für sein Vaterland später war. („Stalingrad“ wirkt weit düsterer als der Rest des Albums. Der stringente Beat, die immer wieder aufkeimenden, zitternden Geigen beschreiben die Panik. Bedrohung und verkündetes Unheil sind hier die richtigen Stichwörter. Melodien bleiben im Hintergrund, verstecken sich hinter der zitternden Soundlandschaft.)

Fünf Jahre dauerte es, bis die Bilder nicht mehr ständig in seinem Kopf präsent waren. Bilder von Leichen, gefallenen Gegnern und Freunden, vergewaltigten Frauen und verstümmelten Kindern. Fünf Jahre bis er nicht mehr jede Nacht schreiend aus seinen Träumen aufwachte, es gerade bis ins Bad schaffte, bevor er sich übergeben musste und sich danach danach das nicht vorhandene Blut von den Händen wusch. Für ihn war es da. Fünf Jahre des imaginären Terrors, bis er sich langsam legte und der damals körperlich junge, doch innerlich gealterte Mann sein Leben erneut zu leben begann. Vergessen jedoch, das konnte er nie. („Five Years“ ist ein der vertonte ambiente Albtraum mit Hang zur Neo-Klassik. Ein abgehackter Beat, abgerissene Samples, konstantes Dröhnen im Hintergrund und eine immer wiederkehrende Geigenmelodie sind die Zutaten, die hier das Kopfkino anschmeissen.) Er schwor sich alles anders zu machen, von vorne anzufangen. Aber aus der eigenen Haut kann man nicht raus. Er lernte Frauen kennen, viele Frauen. Er benutzte sie. Als Ablenkung bis er die eine kennen lernte, die ihn von Grund auf ändern sollte. Und dann geht auf einmal alles schnell.

Er hört etwas, dass er schon seit Monaten nicht mehr hörte. Das konstante Piepsen der Geräte, die ihn am Leben halten („Atlantikend“). Er wundert sich und in diesem Moment brechen die Bilder in seinem Kopf ab. Unwiderruflich. Erinnerung gelöscht. Panisch schaut er durch den Raum. Er trifft auf den Blick seiner Frau. Sie leidet, während sie seine Hand festhält und dabei zittert. Er leidet mit ihr. Der Blick seines einzigen Sohnes ist kalt. Der alte Mann weiß, dass er nichts besser gemacht hat, als sein eigener Vater. Sein Sohn hat das spüren müssen, was er nicht verarbeiten konnte. Er kann ihm jetzt nicht mehr böse sein, dafür ist keine Zeit mehr. Das Piepsen wird langsam, verliert an Gleichmäßigkeit. Seine Enkel spielen auf dem Boden, streiten sich um ein Matchbox Auto. Die Mutter versucht sie zur Ruhe zu bringen. Ruhe. Das ist das was er jetzt nicht haben müsste. Aber sie wird erzwungen. Das Piepsen verstummt, um ihn herum wird alles schwarz und still. Da hinten ist ein Licht. Im Geiste geht er darauf zu. Er verlässt diese Welt und wird in einer anderen alles besser machen. Dessen ist er sich sicher.


Tracklist:

01. Come & See
02. Interference
03. Untitled
04. Stalingrad
05. Sonar
06. 5 Years
07. Eastern
08. Midnight To 4 Am
09. Mahabharata
10. Atlantikend

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Alex G.

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