Hi.
LIRR aus Flensburg heißen uns herzlich Willkommen.
Bei Bands aus dem Norden Deutschland befürchte ich immer direkt die 101. Kopie von TURBOSTAAT zu hören. Kein Hate und so, aber irgendwie klingen die Bands von oben doch alle gleich. So rein postfaktisch betrachtet.
LIRR belirrten mich eines Besseren. Das was die Band da in knapp 30 Minuten auf die Beine gestellt hat, stellt deutschlandweit alles derzeit Post-Corige-Anything in den Schatten. (Post-)Hardcore, RnB, Punk, Elektrobeats, Screamo, Jazz, Math und dabei ganz viel Gefühl. Tauchte erst im letzten Jahr die EP "ritual" mit zwei Songs jenseits der üblichen Drei-Minuten-Songmarke auf, ignoriert die Band auf ihrem Debut jegliche selbst geschaffene Rahmenbedingungen, spielt gefühlt einen riesigen Song und zerhackstückelt diesen in unterschiedliche Themen und musikalische Abschnitte. Dabei zieht sich ein roter Faden durch das komplette Album, welcher die einzelnen Versatzstücke zusammenhält. Ähnliches hab ich zuletzt 2006 auf „Art Damage“ von FEAR BEFORE THE MARCH OF FLAMES gehört.
2006. Generell klingt dieses Album wie aus einer Zeit entsprungen in der via Last.Fm noch fleißig gescrobbelt wurde, Myspace noch State of the Art im Bereich Social Media war und Imperial Clothing (pardon) noch keine AirMax und Winterparkas verkaufte. 2017 äußert sich dennoch anhand der zeitgemäßen Produktion.
Innerhalb der Songs lassen LIRR einen permanenten Jamcharakter einfließen, wirken aber in jeder Sekunde so, als wäre jeder Ton, jede einzelne Note haargenau so geplant. „God´s On Our Side; Welcome To The Jungle“ beginnt mit der ersten Single „This House Is Clean, Baby (This House Is Clean)“ ähnlich rabiat wie einst BRAND NEW mit „Vices“, grooven zeitweilig wie die QUEENS OF THE STONE AGE und zerstören die Ruhe mit Noisechords, Screams und einem erstaunlich tanzbarem 7/8 Takt.
Tanzbar geht’s dann mit „Jungle Pt.1“ weiter. Klassische Emogitarren leicht reduziert, wehleidiges Schreien und abschließender Cleangesang. AFI und FROM FIRST TO LAST wären stolz, wenn sie so einen Song heute noch schreiben könnten. Die direkte Songfortsetzung folgt mit lautem Distortion, Shoegaze, Geschrei und viel viel viel Delay. Dazu schleichen sich kurzzeitig ein paar Blastbeats ein, bevor „Jungle Pt.2“ mit einer fuzzgitarrenunterlegten Gesangsmelodie zu einem ruhigen Ende gebracht wird.
Mit „Sour, Pt.1“ und „Pt.2“ folgt der Höhepunkt des Albums. Das Songwriting der Band ist phänomenal, die instrumentalen Fähigkeiten ebenso. Lediglich die Kopfstimme von Sänger Mats ist noch etwas ausbaufähig, aber in Anbetracht der blutjungen Band egal, sonst wäre jegliches Entwicklungspotential bereits aufgebraucht. Die eben genannten Songs haben diesen speziellen sexy ARCTIC MONKEYS-Vibe und die verspielte Unbefangenheit der frühen …AND YOU WILL KNOW US BY THE TRAIL OF DEAD. Besonders toll ist die Leadgitarre, welche im zweiten Part die Gesangsmelodie aus der ersten Hälte nachspielt.
Die durch die permanenten Einzähler des Drummers geschaffene Proberaumatmosphäre manifestiert den Eindruck, dass das Album an einem Stück aufgenommen wurde. Auf „Grow“ wird es elektronisch, atmosphärisch, aber an keiner Stelle kitschig. „MTV“ und „Down“ zeigen, dass es einem guten Song egal ist, in welcher Form er gespielt wird. Erst Indiepop zum Tanzen, dann Mathpunk. Die anschließende Screamoauflösung erinnert an Glanztazen von UNDEROATH, NORMA JEAN und ALEXISONFIRE.
Der Emocharakter, der Gesang und das Sampling im ersten Teil von „Chicago“ könnte abermals von BRAND NEW sein. Im zweiten Teil verneigen sich LIRR auf großartige Weise vor all ihren Einflüssen, ziehen das Tempo an und demonstrieren noch einmal ihr außergewöhnlich talentiertes Songwriting und ihre exzellenten technischen Fähigkeiten. Dabei werden in etwas über drei Minuten noch einmal alle Genres abgegrast, welche auf „God´s On Our Side; Welcome To The Jungle“ Platz gefunden haben.
Es lohnt sich dem Album mehr als nur einen Durchlauf zu geben. Hatte ich anfangs den Eindruck, dass das Niveau der Songs in der zweiten Hälfte des Albums etwas abnimmt, offenbaren bei genauerem Hinhören immer weitere Feinheiten und versteckte Melodien, Sounds, Instrumente die nachhaltige Qualität der einzelnen Lieder und werden selbst beim 10. Hördurchlauf nicht langweilig. Im Gegenteil.
LIRR besitzen das Talent, trotz aller technischer Raffinesse, an keiner Stelle auch nur im geringsten verkopft zu wirken und stellen damit nicht sich selbst, sondern das Lied an sich in den Fokus. Eine Eigenschaft, welche ich mir bei den Genrekollegen THE HIRSCH EFFEKT seit Ewigkeiten wünsche. LIRR klingen auf ihrem Debut völlig unverbraucht, motiviert, authentisch, emotional und an jeder Stelle so, als hätten jeder einzelne an jeder Sekunde des Albums Spaß.
Dafür heißen auch wir LIRR aus Flensburg herzlich willkommen.
Hi.
P.S. Den im Pressetext versprochenen Trappart such ich allerdings immernoch.