Plattenkritik

EDGE - Perspectives On Drug Free Culture

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Release Date: 03.09.2010
Datum Review: 21.07.2010

EDGE - Perspectives On Drug Free Culture

 

 

Subkultur? (Gegen-)Bewegung? Distinktionsmerkmal? Egotrip? Die Idee, die Haltung, das Lebensgefühl Straight Edge hat in den Jahren seit seiner mehr oder weniger unfreiwilligen Initiation durch Ian MacKaye so einige Ergänzungen, Umdeutungen und ideologische Entgleisungen erfahren. Da kann man was draus machen. Einen hochinformativen Film zum Beispiel, der sich recht unaufgeregt und ästhetisch mit diesem Phänomen auseinandersetzt.

Früher oder später musste das Thema ja noch einmal in den Diskurstopf geschmissen werden. Hardcore, du selbstreferentielles, liebgehasstes Genre. Die Gefahr der Selbstbeweihräucherung, der Verklärung und Romantisierung der Vergangenheit steht da natürlich immer im Raum.
Und was bitte ist zum Thema Straight Egde noch nicht gesagt und geschrieben worden? Marc Pierschel und Michael Kirchner, die Macher von „EDGE – Perspectives on Drug Free Culture“ haben sich allerdings sichtlich Mühe gegeben diesen mit allerlei persönlicher Brisanz aufgeladenen Begriff so gut es eben geht mehrperspektivisch und in seiner gesamten Ambivalenz zu erfassen. Zweieinhalb Jahre Arbeit, Sichten, Schneiden, Auswählen haben sich auch auf ästhetischer Ebene bezahlt gemacht. Schlüssig und nicht zu überladen, entfalten die beiden ihre Straight Edge-Mindmap bestehend aus den Schlagwörtern „politics“, „anti-consumerism“, „DIY “ und umkreisen gleichzeitig die Frage nach einer einheitlichen Bewegung. Die Gefahr, bei einem solchen Thema Lücken zu lassen, steht natürlich beständig im Raum. Die Auswahl der hier porträtierten Protagonisten ist allerdings mit Bedacht gewählt und sehr schlüssig: Ian MacKaye (u.a. TEEN IDLES, MINOR THREAT, FUGAZI) für den Gründungsmythos, Ray Cappo (u.a. YOUTH OF TODAY, SHELTER) für die Übernahme, Zuspitzung und ein Stück weit auch die Radikalisierung, Karl Buechner (u.a. EARTH CRISIS) für den radikaleren Fokus auf Tierrechte, Pat Flynn (ex-HAVE HEART) für die Jetzt-Zeit sowie Bull Gervasi (ex-R.A.M.B.O.) für die Alternative in der Alternative.

EDGE lebt von seinen unaufgeregten Einstellungen und seinem Anspruch, das Diskursdickicht Straight Edge so gut es eben geht zu durchforsten. Stutzig wird man, wenn der gerade einmal 16-jährige Taylor Clements aus Santa Barbara sich als gefestigter und abgeklärter Abstinenzler gibt. Froh ist man, vor allem vor der Folie irgendwelcher Gender-Theorien, dass hier auch mal eine Frau zu Wort kommt. Kritisch zu beäugen ist seit eh und je die Anti-Konsumismus Debatte einer Szene, die auf Konsum schlichtweg angewiesen ist und die ohne bestimmte Codes, Symbole, Kleidung und Labelshirts einen Teil ihrer Identität (sofern man davon noch sprechen möchte) einbüßen würde. Auch in digitalisierten Zeiten bleibt Hardcore in vielen Kreisen doch eine Geek-Kultur der Jäger und Sammler. Der Vinyljunkies und Pre-Order-Fanatiker. Und das ist ja auch gut so. Das soll so bleiben.

Unbezahlbar und auch für vermeintliche Szenekenner sehr aufschlussreich, sind die Auftritte bestimmter Protagonisten, die hinter der Idee Straight Edge auch immer den Menschen hervor scheinen lassen. Ray Cappo verrenkt sich im wahrsten Wortsinne vor der Kamera, gibt Auskunft über den berühmten „Wein-Vorfall“, den viele Abstinenz-Apologeten mit dem Untergang des ge-xten Abendlandes gleichsetzten. Hochinteressant auch Bull Gervasi, immer strahlender, dicht bartbewachsener Bioladenverkäufer von R.A.M.B.O., der paradigmatisch für unterschiedliche Lebensentwürfe trotz der Gemeinsamkeit Straight Edge steht. Oder aber Ross Haenfler, HAVE HEART T-Shirt tragender Soziologie-Dozent aus den USA, der seinen Studierenden den Symbolgehalt von Geld verdeutlicht, indem er es zerreißt. Das sind natürlich alles so kleine Tricks, das Besondere an dieser Bewegung, die eigentlich niemals eine sein wollte, hervorzuheben. Trotzdem bleiben Pierschel und Kirchner trotz offensichtlicher Szeneverbundenheit nicht unkritisch. Machismo, ideologische Entgleisungen (in diesem Kontext ist das Bonusmaterial in Form eines Sean Muttaqi-Interviews sehr interessant) sowie das Thema ausufernder Militanz werden hier zu Diskussion gestellt. Stimmige Schwarz-Weiß-Einstellungen und kurze Liveausschnitte sorgen überdies für eine bisschen Atmosphäre und das kurze Gänsehautgefühl sich auf der Bühne stapelnder Menschen. Löblich ist auch der Einbezug der Gender-Perspektive einer Szene, die wohl bis an ihr Lebensende pit-patriarchalisch geprägt sein wird. Fazit: Für Idiosynkraten aber vor allem alle anderen, ein absolut essentieller und sehr liebevoll gestalteter Einblick. Und wer bitte sagt die zwei goldenen Worte „Fuck you!“ mit einer abgeklärteren Niedertracht als Mister „Gründungsmythos“ Ian MacKaye?!

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René

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