19.10.2019: AS I LAY DYING, CHELSEA GRIN, UNEARTH, FIT FOR A KING - Köln - Palladium

30.10.2019
 

 

AS I LAY DYING sind zurück. Nicht erst seit gestern, nicht mit der ersten Europa-Tour seit der Wiedervereinigung. Aber mit dem ersten Album seit „Awakened“ im Jahr 2012. Dem ersten Album seit der „Sache“. Und, wenn man nur nach Besucherzahlen geht: stronger than ever. Sagt das was über die Metal(core)-Szene aus? Und wenn ja: Was sagt es aus?

Diese Abhandlung könnte vermutlich mehrere Seiten in Form eines Artikels füllen. Und andernorts ist dies auch schon geschehen. Hier soll das Ganze daher nur leicht einfließen – denn AS I LAY DYING 2019 ohne den Mordversuch von Frontmann Tim Lambesis auf seine Frau zu definieren, das wäre komplett vermessen. Viele der Fans mögen dies (offensichtlich) tun, manche wissend, dass es falsch ist, manche davon überzeugt, dass das doch „an der großartigen Musik“ nichts ändert. Ja, die Diskussionsleitfrage, ob man Kunst abgetrennt von den Künstlern bewerten kann und sollte, ist auch angesichts der vielen ans Licht gekommenen Missbrauchsfälle der letzten Jahre brisanter denn je. Und auch AS I LAY DYING selbst scheinen sich neu definieren zu wollen. Nicht umsonst heißt Track 10 und eine der Singles des neuen Albums „Redefined“. Es ist wohl eine der spannendsten Fragen des modernen Musikzirkus, ob und wie das genau, im wahrsten Sinne des Wortes, über die Bühne geht.

Doch den Anfang machen wir beim Tourpaket, das AS I LAY DYING fast einen Monat mit durch Europa nimmt. Für Metalcore-Affine durchaus einige Leckerbissen dabei: FIT FOR A KING und CHELSEA GRIN für die „neuere Generation“, wobei beide Bands inzwischen nun auch schon 12 Jahre auf dem Buckel haben, und UNEARTH sowie AS I LAY DYING für die älteren Kaliber. Eine gute Mischung. Geht sie auf?

FIT FOR A KING machen vor einem gut gefüllten Palladium den Anfang. Die Band aus Texas kann inzwischen auf Material von 5 Studioalben und 2 EPs zurückgreifen, wobei die ganz frühen Ausflüge natürlich keine Chance haben, es in die Setlist zu schaffen. Ganz im Gegenteil. FIT FOR A KING sind offensichtlich mächtig stolz auf ihr jüngstes Werk „Dark Skies“, das letztes Jahr rauskam. Fünf der sieben Songs in den Opener-angemessenen (FIT FOR AN OPENER, höhö…) 30 Minuten sind Songs der neuen Platte, darunter natürlich auch die Auskopplungen  „When Everything Means Nothing“, „Backbreaker“, „The Price of Agony“ und zu guter Letzt auch „Tower of Pain“. Die Band legt einen eher durchwachsenen Auftritt hin, der vor allem unter dem matschigen Live-Sound leidet. Die Breakdowns und die harten Parts in den Songs von FIT FOR A KING klingen nicht so mächtig, wie sie es sollten, die Clean-Parts packen einen deutlich weniger als auf Platte. Das Publikum macht natürlich trotzdem mit und spendet kräftig Applaus, aber es ist deutlich zu vernehmen, dass ich nicht der Einzige bin, dem der Sound nicht so in den Kram passt. Von der Vorgängerplatte „Deathgrip“ gibt’s zwei Songs zu sehen, den Titeltrack und „Pissed Off“. Shouter Ryan Kirby legt eine gute Show hin. Eben genau so gut, wie sie es in einem maßlos überfüllten Genre eben ist, in dem sich die Bands und damit auch deren Songwriting, Ästhetik und Live-Auftritte ähneln. Kirby hat Charisma und gibt, wie so viele seiner Metalcore-Frontmann-Kollegen, einen stattlichen Animateur für das durchschnittlich doch recht junge Publikum in den ersten Reihen ab.

UNEARTH kommen im direkten Vergleich wirklich aus einer anderen Zeit. Die Band aus Massachusetts hat nie wirklich wilde Experimente gemacht, beispielsweise mit Clean-Gesang rumexperimentiert oder Deathcore-Einflüsse die Überhand nehmen lassen. Gelegenheiten dazu hätte es genug gegeben, denn beides ist seit mindestens 10 Jahren angesagter als der „klassische“ Metalcore der Anfang/Mitte 2000er. Umso höher muss man UNEARTH das anrechnen. Spielerisch können sie jedenfalls locker mit FIT FOR A KING und CHELSEA GRIN mithalten, die stecken sie gar eher in die Tasche. Bei AS I LAY DYING könnte es knapp werden, aber selbst gegenüber denen spielen UNEARTH deutlich technischer. Man könnte auch sagen: UNEARTH geizen in ihrem Songwriting eher mit poppigen Strukturen. Berechtigterweise war die Band also im Frühjahr 2019 zusammen mit DARKEST HOUR der rotierende Headliner auf der wunderschön betitelten „Death to False Metalcore“-Tour, die allerdings zumindest in der Kölner Essigfabrik nur spärlich besucht war. Im direkten Vergleich dürften sich heute im Palladium ungefähr 6x so viele Leute UNEARTH angucken. Zu sehen bekommt man, wie immer, Unterhaltung der Extraklasse. Ob die ständig ihre Bühnenseite wechselnden Gitarristen Buz McGrath und Ken Susi, Hühne Trevor Phipps am Mikrofon (von der Statur her könnte er glatt ein Double von Tim Lambesis mit blonden Haaren sein) oder Nick Pierce, der seinen linken Drumstick hält wie kein zweiter und trotzdem viele seiner Kollegen damit noch 3x in die Tasche steckt. UNEARTH sind ebenfalls mächtig stolz auf ihr 2018er Werk „Extinction(s)“, die ersten drei Tracks davon werden gespielt. Ansonsten hält man es sich mit „The Oncoming Storm“ – was wohl eindeutig als das Durchbruchsalbum von UNEARTH bezeichnet werden kann. „Zombie Autopilot“, „The Great Dividers“ und „This Lying World“ sind zwar inzwischen mehr als 15 Jahre alt, trotzdem klingen sie aufgrund des hyperdynamischen und abwechslungsreichen Riffings noch frisch. Garniert wird das ganze dann noch durch „My Will Be Done“ – ebenfalls ein Feuerwerk auf dem Griffbrett. UNEARTH sind es immer wieder wert.

CHELSEA GRIN gingen, wie auch jede andere „Metalcore“-Band ab ca. 2010, ziemlich an mir vorbei. Noch nie live gesehen, auf Platte noch nie gehört. Gerade gestern habe ich mir ein Youtube-Video des großartigen Punkrock MBA darüber angeguckt, wie SUICIDE SILENCE den Deathcore durch „The Cleansing“ / „No Time to Bleed“ und dann durch „The Black Crown“ zweimal (neu) erfunden haben. CHELSEA GRIN sind meines Empfindens nach stark von dieser ersten Schaffensphase der legendären Band um den tragisch verunglückten Mitch Lucker beeinflusst. Die Gitarren auf Drop A gestimmt, oder eben so tief es nur geht, die Breakdowns erbarmungslos, die spärlich gesäten Melodien aus dissonanten Tonleitern bestehend, und auch das Bühnengebaren von Frontmann Tom Barber ist nicht gerade weit weg vom erwähnten Mitch Lucker. Auch Barber kombiniert hohes Gekeife mit maximal tiefem Growlen, nur dass auf seinen Gesangstracks meist beides nebeneinander gedoppelt wurde. Barber stoß erst im letzten Jahr zu CHELSEA GRIN, nachdem deren Gründungsmitglied und vorheriger Frontmann Alex Koehler aus gesundheitlichen Gründen die Band verlassen musste. Auf „Eternal Nightmare“, dem letzten Album der Band aus Salt Lake City, ist er erstmals auf Aufnahmen zu hören. Live wirkt das Ganze ebenfalls bedrohlich und brutal, CHELSEA GRIN müssen im Sound glücklicherweise nicht mehr so viele Abstriche machen wie zuvor noch FIT FOR A KING. Auf den Sound dieser Band muss man allerdings stehen, sie scheint die polarisierendste auf dem Line-Up zu sein. Die vordersten Reihen sind gut gefüllt mit Diehard-Fans, es gibt gar einige, für die CHELSEA GRIN offensichtlich der Hauptgrund für den Besuch des heutigen Konzerts sind. In den hinteren Reihen sammeln sich die Kritiker, denen das nichts gibt. Aber es gibt ja genug Bier für alle, und so können die vor AS I LAY DYING nochmal ein wenig auftanken.

Und dann stehen sie nach einer guten halben Stunde Umbaupause da auf der Bühne. AS I LAY DYING. In derselben Besetzung, mit der sie nicht nur vor sieben Jahren aufgehört hatten, sondern mit der sie auch schon seit 2007 zusammen Musik machen. Los geht’s mit einem Knall und mit einem Statement: „Blinded“ ist sicherlich eines der persönlichsten Stücke, dass Lambesis auf dem Comeback-Album „Shaped by Fire“ geschrieben hat. Obwohl es in der ganzen Platte um die Aufarbeitung seiner Vergangenheit und eine neue Positionierung bzw. Neudefinition im Hier und Jetzt geht, versucht dieser Track es wie kaum ein anderer, eine Perspektive auf die Innenwelt des Sängers zu geben. In dieser neuen Single spielen AS I LAY DYING musikalisch all die Trümpfe aus, die sie so zu bieten haben: Schnelle Strophen mit Doublebass-Geballer und Riffs aus dem Melodic Death Metal und Refrains mit Clean-Gesang und Mitsingfaktor. Bei dem fantastischen Schaffenswerk der Band hat man nach so einem packenden Anfang viele Optionen, um anzuknüpfen. „Through Struggle“ nimmt einen mit zurück in die Zeit ihres ersten Meisterwerks „Shadows are Security“. Mit „Within Destruction“ gibt es danach den meiner Meinung nach härtesten (und auch thrashigsten) Song von AS I LAY DYING auf die Mütze. Verschnaufpause gibt es erstmal keine. Bei „Redefined“ hilft dann noch einmal Ryan Kirby von FIT FOR A KING aus, diesmal mit deutlich besserem Sound gegenüber seiner eigenen Band. Was die Live-Show angeht, gibt es inzwischen natürlich ganz andere Möglichkeiten für AS I LAY DYING. Zum einen durch die verbesserte Technik, zum anderen aber auch durch das inzwischen deutlich größere Budget. Es knallt hier und da laut und der Flammenwerfer wird auch des Öfteren im Takt angeschmissen, um die härtesten Passagen zu begleiten. Zugegebenermaßen passt das bei „Within Destruction“ wirklich vortrefflich. Dass die Lichtshow auch passt wie die Faust auf’s Auge, brauche ich vermutlich nicht mal erwähnen. Jordan Mancino hat, wie es seinen Fähigkeiten als Schlagzeuger und seiner Wichtigkeit für die Band angemessen ist, sein eigenes Podest und erhebt sich so über die Mitmusiker. Doch zentral ist nach wie vor Tim Lambesis. Inzwischen aber mit deutlich anderem Beigeschmack. Er wirkt wie ein geläuterter Held auf seinem Quest, wenn er da so auf der Bühne rumspringt und zwischendurch wie ein demütiger Hund kleinlaute und stets dankbare Ansagen macht. „From the bottom of your heart – thanks for giving us a second chance” heißt es zu späterer Zeit. Dass AS I LAY DYING die tatsächlich von der Metalszene bekommen, darüber lässt sich heute nicht streiten. Auch wenn ich denke, dass viele der Zuschauer heute, genau wie ich, aufgrund eines Gemisches aus Neugierde, Melancholie und Bewunderung des musikalischen Schaffenswerkes dieser Band ins Palladium gekommen sind, und weniger, weil sie die inszenierte „Phoenix aus der Asche“-Story der Band so inspirierend finden. Worum es bei dieser Tour oder bei AS I LAY DYING 2019 geht, das dürfte den meisten im Raum klar sein, so hoffe ich zumindest: Um Kohle. Und zwar ausdrücklich nicht nur für die Band. Denn jeder, der an dieser Tour mitarbeitet, profitiert ja auch davon. Vom lokalen Veranstalter über die Booking- und Promoagenturen, das Label und so weiter. Diesen Beigeschmack kann man versuchen, auszublenden – mit viel Bier oder einer hohen Fähigkeit an Ignoranz beispielsweise. Ob es restlos klappt, das wage ich zu bezweifeln. Tim Lambesis hat einen Auftragsmörder auf seine Frau angesetzt. Nichts in der Welt lässt mich absolutes Verständnis für einen Mensch aufbringen, der das getan hat. Eher ist es so, dass ich einen Ekel empfinde, denn mein Bauchgefühl sagt mir eindeutig, dass das Drama um AS I LAY DYING sogar noch wie ein gefundenes Fressen von mehreren Seiten hochstilisiert wird, um daraus wiederum Profit zu schlagen. Dass dieses Kalkül, und es würde mich doch sehr wundern, wenn es nicht in den Köpfen mancher Beteiligten existieren würde, mehr als nur aufgeht: Geschenkt. AS I LAY DYING spielen anderthalb Stunden und liefern einen guten Querschnitt mit vielen neuen Songs in der Setlist. Klassiker wie „94 Hours“ oder „The Darkest Nights“ fehlen natürlich nicht. Fazit: Gute Live-Show, aber ähnlich wie bei PARKWAY DRIVE viel zu viel Schnickschnack für meinen Geschmack. Ich brauche keine Böller, Flammenwerfer oder 360° rotierende Schlagzeugpodeste. Ich gehe schließlich nicht auf eine Show von RAMMSTEIN oder BON JOVI. Aber nachdem ich das nun einmal abgehakt habe, werde ich es mir definitiv als Headliner-Show nicht noch einmal ansehen. Viel zu groß der durch Kommerz zerfressene Impericon-Faktor, es war mal wieder das reinste Szenen-Mallorca. Mit, wie oben geschildert, sehr fiesem Beigeschmack. Am Ende des Tages habe ich aber das bekommen, was ich erwartet habe. Verdammt gute Musik in einem verdammt aversiven Kontext.

Einen Tag nach dem Ende der Europatour im Kölner Palladium werden dann AS I LAY DYING als Headliner für die Impericon Festivals 2020 angekündigt. Der Rubel rollt. Gut, dass ich vorher eh schon wusste, dass ich dort nicht hin will.