26./27.04.2019: GROEZROCK FESTIVAL 2019 - Meerhout

12.05.2019
 

 

Nach einjähriger Abwesenheit ist das GROEZROCK FESTIVAL zurück – auch 2019 wird der Acker im beschaulichen Meerhout in Belgien wieder gerockt. Dieses Jahr auf fünf Bühnen und mit einem leicht veränderten Konzept.

So gibt es einen Bereich des Festivalgeländes, der kostenlos betretbar ist und die fünfte Bühne beherbergt. Wenn man Bock hat, kann man also an diesem Wochenende auch einige Hochkaräter sehen, ohne überhaupt Geld dafür zu lassen. Doch auch auf den anderen vier Bühnen wird natürlich auch an beiden Tagen wieder vom Feinsten aufgefahren, sodass man wie gewohnt die Qual der Wahl hat.

 

--- FREITAG ---

Da das offizielle Festivalgelände am Freitag jedoch erst um 15 Uhr eröffnet, kann man sich gediegen und ohne FOMO die ersten Kapellen auf der fünften Bühne (The Cockpit) geben. Die erste Band meines Groezrock sind SLOW CRUSH, die zurzeit in aller Munde sind und im Sommer gar als Support auf der ersten Europatour von GOUGE AWAY am Start sein werden. Obwohl sie erst seit zwei Jahren aktiv sind, haben sie gerade ihre erste US-Tour hinter sich gebracht und eine EP sowie ein Album im Back-Katalog. Live kreieren SLOW CRUSH eine verträumte Welt zwischen Shoegaze, Dream Pop und Grunge. Soundtechnisch bewegen sie sich zwischen hell und düster, hart und soft und werden am ehesten durch die sanft wabernde Stimme von Frontfrau und Bassistin Isa Holliday zusammengehalten. Technisch astrein vorgetragener klassischer Shoegaze, wie er am ehesten an Bands wie NOTHING erinnert. Als gediegener Einstieg in zwei Tage voller Lärm und Geballer sehr gelungen.

Ganz andere Seiten ziehen KING NINE aus New York auf. Die machen Hardcore, der ihrem Heimatsort alle Ehre macht, kommen allerdings deutlich heavier daher als Referenzen wie MADBALL oder SICK OF IT ALL – mehr Riffs. KING NINE sind in Europa und speziell in Belgien keine Unbekannten, ich erinnere mich beispielsweise an eine ordentlich abgefeierte Show im kleinen Zelt auf dem Ieperfest 2014. Viel Zeit ist seitdem vergangen. KING NINE ist jedoch nicht die klassische Ami-HC-Band, die drölf Monate im Jahr auf Tour ist, sondern haben seitdem nach fünf Jahren seit ihrem Debütalbum „Scared to Death“ 2018 endlich ein zweites Album namens „Death Rattle“ nachgelegt. Auf der Setlist finden sich gleichermaßen neue und alte Songs, wobei letztere etwas besser beim Publikum ankommen. Stellenweise Singalongs, deutlich mehr Mosh-Action. Richtig viel geht allerdings nicht, die meisten Zuschauer zeigen kaum eine Regung. Nicht der Standard einer amerikanischen Hardcore-Show also. KING NINE selbst zeigen sich unbeeindruckt, ähnlich wie ihre prominenten Zuschauer: Vitalo von BACKTRACK schaut sich an, was so in den frühen Stunden des Groezrock so geht, auch der Drummer von BROKEN TEETH macht die Stage Potato. Martin Stewart von TERROR sollte gar an der zweiten Gitarre aushelfen, fällt aber mit technischen Problemen gleich zu Anfang des Sets aus, versucht es dann noch ein paar Mal, lässt es aber sein. Auch zu viert kreieren KING NINE allerdings einen druckvollen Sound, der die Erwartungshaltung ausgehend von den beiden Studioalben nicht enttäuscht.

CANDY kommen unmittelbar im Anschluss jedoch im positiven Sinne unroutinierter rüber, was natürlich auch dem Umstand geschuldet ist, dass es ihre Konzert-Premiere in Europa ist. Ehemalige Mitglieder von MALFUNCTION und LOST SOULS und derzeitige Mitglieder von BACKTRACK – natürlich weiß der Fünfer aus Richmond genau, was er da macht. Prädikat: Ballert ziemlich gut. Gänzlich im Gegensatz zum Namen bewegen sich CANDY soundtechnisch im metallischen Hardcore mit starken Thrash-Anleihen, die Vocals klingen wie gespiene Galle. Vertrackte Tracks wie „Good to Feel“ oder eine Dampfwalze wie “Lust for Destruction“ bringen die besten Eigenheiten von CANDY auf den Punkt: Erfrischend eigenständiges Songwriting in einem mehrfach totgespielten und wiederbelebten Genre. Auf der angekündigten Tour mit CONVERGE, TERROR und SECT wird sich der Stand von CANDY hoffentlich weiter zementieren – denn dieser Geheimtipp ist zurecht einer.

Neben krediblen Hardcore-Bands – und hier mag man mir Elitismus gerne vorwerfen – sind allerdings auch eine Menge Impericon-Hardcore-Bands auf dem Lineup zu finden, die solche Menschen auf den Plan rufen, die von bösen Zungen als „Mallorca-Mosher“ bezeichnet werden. Mesh-Short, New-Era-Cap, Septum, plattes Gelaber – kennste einen, kennste alle. Vielleicht sollte ich mal in einer krediblen Hardcore-Band meine Wut über die Verkommenheit meines einst heiß und innig geliebten Heimatgenres verarbeiten. GET THE SHOT jedenfalls sind inzwischen sehr professionelle Animateure für den Affenzirkus vor der Bühne und halten diesen bestens bei Laune. Frontmann J-P erinnert mich nicht zum ersten Mal mit seinem Bizepsangespanne und seinen Posen an einen Profi-Wrestler. Aber auch auf der Bühne ist er gut aufgehoben, eine schlechte oder gar unmotivierte Show kann man den Kanadiern beim besten Willen nicht vorwerfen. Die Frage ist nur, ob und in welchem Ausmaß man Fremdscham empfindet und inwiefern man darüber hinwegsehen kann. „This is what hardcore is about“ fällt als Ansage kurz vor einer seiner Muskelposen. Er bezieht sich zwar auf etwas anderes, beides in Verbindung zu sehen, bringt mich aber zu schmunzeln. Wahrscheinlich habe ich ihm vorher nicht zugehört, weil die Ansagen nicht konkreter werden als „The real enemy is outside“-Gelaber. Darauf erstmal einen Energy-Drink.

Weiter geht’s auf das inzwischen eröffnete restliche Festivalgelände. CITIZEN spielen einen von zwei exklusiven Europa-Gigs auf dem Groezrock, Sonntag dann noch auf dem Outbreak Fest in Leeds. Auf meinem Zettel ein ganz klares Highlight, wenn nicht sogar die Band, auf die ich mich am meisten freue. Bei den ersten Tönen von „Jet“ merke ich, dass ich bei weitem nicht der Einzige bin. Der Stagedive-Reigen ist eröffnet. Mat Kerekes scheint gut drauf zu sein und grinst sich einen wie die Katze aus Alice im Wunderland. Auf seine Ansagen reagiert das noch verschlafen wirkende Groezrock eher verhalten. „What the hell, please give me something“ – fast exakt derselbe Wortlaut, den KING NINE-Sänger Daniel Seely zuvor verwendet hatte. Trotzdem lassen sich CITIZEN nicht davon die Laune verderben und liefern weiter ab: Relativ sauber gliedert sich das Set in eine „As You Please“ Phase, eine „Everybody is Going to Heaven“ Phase und zum Abschluss eine „Youth“ Phase. Wie so oft auf CITIZEN-Shows merkt man auch heute, wie sehr den Fans die frühen Songs wie „Sleep“, „The Night I Drove Alone“ oder „The Summer“ ans Herz gewachsen sind. Guter Auftritt, leider aber mit deutlichen Abzügen was den Sound betrifft. Kann die Band natürlich nix für.

Genau wie KING NINE, CANDY und CITIZEN sind auch BACKTRACK zwei Tage später auf dem Outbreak in Leeds zu sehen. Und genau wie bei den anderen Bands sind die restlichen Europa-Dates spärlich gesät. Gerade einmal vier Termine sind es diesmal. Gut möglich also, dass BACKTRACK für viele der Hardcore-Fans auf dem Groezrock 2019 einer der Hauptgründe für den Festivalbesuch sind. Am klassischen NYHC-Sound ist die Band um James Vitalo nah dran. Vor allem in Sachen Groove standen MADBALL sicherlich Pate. Auch auf dem neuesten Longplayer „Bad to My World“, der mittlerweile auch schon zwei Jahre auf dem Buckel hat, spielten BACKTRACK gewöhnt schnörkellos ihren angepissten Hardcore nach dem bewährten Schema. Für mein Ohr sind die drei Longplayer relativ nah beieinander, sodass ich mir das 2017er-Werk gar nicht mehr so aufmerksam angehört habe und eher auf Songs wie „The Worst of Both Worlds“, „Their Rules“ oder „Under Your Spell“ anspringe. Vor der Bühne ist richtig was los, Stagedive-Dauerfeuer. Vitalo und Konsorten geben durchweg Gas und beweisen einmal mehr, warum sie Headliner-Status innehaben. Leider gibt es heute jedoch nix von der „Deal With the Devil“ EP. Vermutlich auch generell eher Wunschdenken.

Wie jedes Jahr karrt das Groezrock natürlich nicht nur vielversprechende Newcomer und Acts ran, die sich in der letzten Dekade etabliert haben, sondern eben auch Legenden aus verschiedenen Sparten und in verschiedenen Größenordnungen. Ein Schmankerl für den etwas ältere Konzertbesucher sind dieses Jahr SAMIAM. Ich sehe die Band zum ersten Mal. Für mich die richtige Zeit, da ich auch erst 2018 warm mit ihnen geworden bin und Lieder wie „Dull“ oder „Sunshine“ auf Dauerschleife anhatte. Trotz fortgeschrittenen Alters strahlen SAMIAM pure Spielfreude aus, allen voran Frontmann und Drummer. Acht Jahre kein neues Album mehr rausgebracht, aber wofür braucht man das auch, wenn man solche Hymnen vorzuweisen hat?

Auch Jesse Barnett von STICK TO YOUR GUNS und TRADE WIND ist SAMIAM-Fan und fragt während dem Set von TRADE WIND, wer die Pioniere des 90er-Emos eben gesehen hat. Während ich auf sein „Hauptprojekt“ inzwischen liebend gerne verzichten kann (Autotune und Hardcore passen in meiner Welt nicht zusammen, genau so wenig wie Hardcore und VIP-Tickets, durch die man Bilder mit der Band und signierte Setlists käuflich erwerben kann), hat Barnett mit seinen talentierten Mitmusikern in seinem Projekt TRADE WIND echt was Schönes auf die Beine gestellt. Bereits vor zwei Jahren war die Band auf dem Groezrock auf derselben Bühne zu sehen. Nach wie vor scheint die Band jedoch eher was für den exquisiten Geschmack zu sein, denn die Hörerschaft ist heute gegenüber 2017 kaum angewachsen. Und das, obwohl mit „Certain Freedoms“ genau am heutigen Tag das neue Album von TRADE WIND veröffentlicht wird. Der bereits angeteaserte Song „No King But Me“ eröffnet das Set, später folgt auch noch das ruhige „I Can’t Believe You’re Gone“. Highlight bleibt für mich allerdings „I Hope I Don’t Wake Up” von der Vorgängerplatte, der in der Setlist glücklicherweise auch nicht fehlt.

Jedes Jahr gibt’s mindestens eine große Entdeckung auf dem Groezrock – 2017 waren das für mich BRUTUS. Und wie die Band seitdem gewachsen ist. Support-Tourneen für RUSSIAN CIRCLES, THRICE und CHELSEA WOLFE. Man kann sich gut vorstellen, dass das Vorprogramm dieser sehr unterschiedlichen Bands Spaß an dem belgischen Trio hatte, lässt sich die Musik von BRUTUS doch so wunderbar schlecht in irgendeine Schublade packen. Postrock? Post-Hardcore? Alternative? Auf jeden Fall ziemlich postig. Und klar, es spielt keine wirkliche Rolle. Dieses Jahr ist hinter der Bühne eine große weiße Leinwand aufgespannt, auf der verschiedene Farben projiziert werden. Ein sehr schönes Bühnenbild. Drummerin und Frontfrau Stephanie hat ihr Drumset wie gewohnt nicht hinter, sondern neben ihren beiden Bandkollegen aufgebaut. In atemberaubender Präzision sitzt bei ihr jeder Schlag und jede Note. Mitreissend vom Opener „Fire“ bis zum abschließenden Epos „Sugar Dragon“. Absoluter Gänsehaut-Moment ist der Anfang von „War“, dem herausragendsten von vielen herausragenden Songs auf der neuen Platte „Nest“. An dieser Stelle mache ich auch gerne nochmal Werbung für dieses Album, das bisher unter den Top 3 meiner Platten 2019 rangiert. Aber auch „Burst“-Songs wie „All Along“ dürfen nicht fehlen. Am gut gefühlten Zelt sieht man, zu welcher Institution BRUTUS verdientermaßen geworden sind. Bei vielen Bands, die schon deutlich länger unterwegs sind, sieht das an diesem Wochenende nämlich vergleichsweise sehr traurig aus vor der Bühne.

Auf Tipp eines Freundes setze ich mich ins Gras vor Bühne 4 und schaue mir DREAM STATE aus South Wales an. Schmackhaft gemacht wurde mir das Ganze mit „Klingt wie PARAMORE“. Ist was dran. Frontfrau CJ hat gesanglich ordentlich was auf dem Kasten, die Songs ihrer Band strotzen jedoch auch vor Energie. Ein netter Zwischengang, auch wenn mir das für Zuhause zu viel Pop-Appeal hat.

BEACH SLANG waren, wo ich eben schon dabei war, die absolute Entdeckung auf dem Groezrock 2015. Wobei Entdeckung relativ ist, die Songs der beiden ersten EPs hatte ich schon gut im Ohr. Überraschung trifft es eher, denn wie gefühlt das komplette Zelt war auch ich total baff von der Quirligkeit, dem Witz, dem Charme und der Lebensfreude von James Alex und seinen Mitstreitern. Vier Jahre sind eine lange Zeit im Musikbusiness – in der Zwischenzeit sind einige Liveshows von BEACH SLANG auf meiner Liste dazu gekommen und zwei Alben sowie eine neue EP veröffentlicht worden. Die Band um James Alex ist inzwischen komplett ausgetauscht. Sein Enthusiasmus scheint ungebrochen, wobei er in manchen Momenten definitiv inzwischen sehr „drüber“ wirkt. Dennoch sind BEACH SLANG meiner Meinung nach immer ihr Geld wert: Jedes Mal gibt es was zu lachen, mindestens drei Cover-Songs und mit Sicherheit nie die gleichen Ansagen. Dass eine zeitmäßige Überschneidung ausgerechnet mit den eigenen Helden von JAWBREAKER sein muss, das lässt Alex gar unkommentiert. „Ride the Wild Haze“ und „Dirty Cigarettes“ sind wieder mal meine Favoriten, „Porno Love“ eine nette Verschnaufpause. Das PIXIES-Cover hätte nicht unbedingt sein müssen.

Die Erwartungen an JAWBREAKER sind natürlich nach einer dermaßen langen Europa-Abstinenz sehr hoch. Die Band war fast länger nicht mehr hier als ich alt bin. Ich persönlich zähle nicht zu den vielen Personen, die in ihrer Jugend oder im jungen Erwachsenenalter eine enge Beziehung zu JAWBREAKER aufgebaut haben, sodass ich relativ erwartungslos an die Sache rangehe. Aber Headliner ist Headliner. Und als solcher wirken Blake Schwarzenbach, Chris Bauermeister und Adam Pfahler auf dieser riesigen Bühne etwas deplatziert und verloren. „Boxcar“ ist ein solider Einstieg, das Stimmungsbarometer dümpelt während des gesamten Sets jedoch eher in mittleren Bereichen vor sich hin und sinkt stellenweise so tief, dass es einem zum Gähnen drängt. Da Schwarzenbach auch alles andere als ein mitreissender Frontmann ist, sind die BAD RELIGION Vibes real. Wer die Band schon mal live gesehen hat, weiß vielleicht, was ich damit meine. Einzige Ausnahme in diesen unspektakulären 70 Minuten ist „Accident Prone“, welches begnadet vorgetragen und seitens der Zuschauer artig mitgesungen wird. Am Ende des ersten Tages erkennt man gut: Viel ist leider nicht los auf dem diesjährigen Groezrock-Festival. Noch nie war so einfach, bei einem Headliner in die ganz vorderen Reihen zu kommen. Noch nie war es auf den kleineren Bühnen so schwer, bei Stagedives auch aufgefangen zu werden. Bleibt nur zu hoffen, dass das die Existenz des Groezrock-Festivals nicht erneut auf die Probe stellt.

 

---SAMSTAG---

Tag zwei bricht an, der Parkplatz ist heute etwas voller als gestern. Gut möglich also, dass das heutige Lineup mehr Leute auf den Plan ruft. Für meinen Geschmack waren gestern mehr gute Gründe dabei. Der Freitag war sonnig und regenfrei, für heute ist schlechteres Wetter angesagt.

Pünktlich zum Set der DEAD SWANS stapfe ich heute aufs Festivalgelände. Seit inzwischen drei Jahren ist die Band aus Brighton wieder aktiv, nachdem sie vorher etwa genau so lange Pause gemacht und im Jahr 2013 eine Abschiedsshow gespielt hatte. Die heutige Show auf dem Groezrock markiert das Ende der Tour mit DEFEATER. DEFEATER und DEAD SWANS zusammen auf Tour, Reunion-Shows von HAVE HEART, THIS IS HELL in Europa auf „Sundowning“-Tour. Man könnte fast meinen, es wäre 2008. Da schlägt mein Herz natürlich höher. Und auch die DEAD SWANS haben die aktuelle Tour ihrem einzigen Album „Sleepwalkers“ gewidmet, welches sie heute fast komplett spielen. Lediglich ein paar Songs gegen Ende der Platte werden ausgelassen. Aber der Eindruck vom Groezrock zeigt zweifelsohne: Es ist nicht mehr dasselbe wie früher. Auch ein Song wie „Thinking of You“ bringt die Leute kaum in Bewegung. Vor der Bühne klafft ein riesiges Loch, das in der ersten Hälfte des Sets lediglich durch den alten Festivalbändchen-Mann, der sich jedes Jahr auf dem Groez rumtreibt (und offensichtlich nicht nur dort, denn beide Arme sind voll mit Bändchen), gefüllt. Er mimt den Gesang und versucht, mehr Leute zu animieren. Ein seltsames und unangenehmes Bild. Glücklicherweise singen in der zweiten Hälfte eine Hand voll Leute ein paar Textzeilen mit und es wird an manchen Stellen gemosht. Trotz allem wirken Nick Worthington und der Rest der Band dankbar und sympathisch. An den beiden Gitarren stehen mittlerweile Joey von MORE THAN LIFE und Kai von LANDSCAPES, der Rest des Line-Ups sind noch die Original- DEAD SWANS. Mit „The Hanging Sun“ greifen sie auch noch einmal auf die großartige „Southern Blue“ EP zurück, was die größte Reaktion seitens der Fans auf den Plan ruft.

CAN’T SWIM können im direkten Anschluss etwas mehr Leute unmittelbar vor ihre Bühne locken. Aber schließlich haben sie auch Newcomer-Bonus und liegen mit ihrem Sound doch ziemlich nahe an dem nach wie vor sehr populären Genre des Pop Punk dran. Doch auch in diesem Set scheint das Groezrock noch nicht ganz wach zu sein, was auch von Frontmann Chris LoPorto bemerkt wird. Die Band selbst kommt allerdings auch nicht gerade enthusiastisch daher. Die Mucke passt aber, und das ist ja die Hauptsache. Die besten Songs der beiden Alben werden vorgetragen, deutlicherweise am besten kommt mit „Stranger“ der wohl größte Mitsing-Hit der Band an.

Mit lahmen Anwandlungen in Publikum lassen sich TRASH TALK nicht abspeisen. Nicht, dass das Groezrock nicht mega hyped auf die Band aus Kalifornien wäre. Der einzige Europa-Gig wird heute hier gespielt. Merch haben sie keins dabei. Passt zu TRASH TALK. Und wer deren Show auf dem Groezrock 2015 gesehen hat, der weiß vielleicht, was ihn erwartet. Auch heute zeigen Lee Spielman und Co. was eine Liveshow von TRASH TALK ist: Lee zerrt die Leute auf und prügelt die Leute über die Bühne, landet selbst mehrmals im Publikum und nimmt keine Rücksicht auf Verluste. Wie auch schon vor vier Jahren fordert er die Leute im Zelt auf, sich hinzusetzen, sonst würde die Band nicht weiterspielen. Die meisten Zuschauer machen mit, dann geht der Song auch weiter. Auch für weitere Späße sind TRASH TALK mal wieder zu haben: Bassist Spencer versucht, mitsamt Bassgitarre an den Pfeilern des Zeltes hochzuklettern, Lee Spielman fordert bei einem der letzten Songs alle auf, das Zelt zu verlassen. Später ruft er alle wieder rein. Und bei „Birth Plague Die“ sorgt er dafür, dass wie auch vor vier Jahren die komplette Bühne voller Leute ist, sodass er bequem auf ihnen sitzen kann und sich die Crowdsurfer auf der Stage türmen. Der Fokus liegt ganz klar auf alten Songs, die beim Publikum auch am besten kommt. Ich persönlich empfinde etwas neuere Songs wie „The Hole“ oder „Awake“ allerdings als musikalisch stärker.  

HANK VON HELL ruft am frühen Abend vor der Main Stage die Turbojugend auf den Plan. Jedes Jahr lassen sich etliche der wohlbekannten Jeansjacken spotten, aber wohl nie hatten sie einen dermaßen guten Grund, sich einmal auf einem Haufen zu versammeln. Der ehemalige TURBONEGRO-Sänger fällt auch mit seinem neuen Projekt auf: Alle Mitglieder sind komplett weiß angezogen und spielen weiße Instrumente. Der Glam-Faktor wird also groß geschrieben, während Hank wie immer mit auffälliger Alice-Cooper-Augenschminke verziert ist. Selbstironie wird hier offensichtlich groß geschrieben. Hank nimmt irgendwann seine Jacke ab, darunter ein schwarzes Tanktop, das er auch nicht lange anbehält. Schließlich präsentiert er für die letzten beiden Drittel des Sets seinen in die Jahre gekommenen, speckigen Oberkörper und auch eine Arschritze darf man mal begutachten, wenn er den Fans den Rücken zeigt. Alles für die Performance: Während HANK VON HELL als Projekt musikalisch sehr kurzweilig und für einige Zeit auch unterhaltsam ist, scheint es vor allem von ihm als zentrale Figur, seinem Image und seinen Ansagen zu leben. „Did you know that Groezrock is the first festival where you can get yourself euthanized?” – Hank erklärt, dass man sich direkt neben dem Tattoo-Zelt einschläfern lassen kann, wenn man mit seinem neuen Tattoo nicht zufrieden ist. Man findet allerdings auf dem Festivalgelände weder ein Tattoo-Zelt noch ein Euthanasie-Zelt. Was für ein Schlingel.

A WILHELM SCREAM haben zwar seit Jahren keine neuen Songs mehr rausgebracht, dafür aber einen neuen Gitarristen im Gepäck. Der Gute hört auf den Namen Jason und spielt heute tatsächlich seine erste Show mit der neuen Band. Zieht man die Komplexität und den technischen Anspruch der Musik in Anspruch, dann macht er seinen Job verdammt gut. Frontmann Nuno lässt wie immer die Rampensau raus und zeigt sich äußerst dankbar dafür, dass die Leute sich auch nach all den Jahren noch für A WILHELM SCREAM interessieren. Für mich kein Wunder, schließlich sticht die Band aus New Bedford, Massachusetts deutlich aus dem Punkrock-Genre aus und hat sich eigentlich ihre komplett eigene Nische kreiert. Sie passt in jedes klassische Fat-Wreck-Lineup, aber bietet auch deutlich mehr Raffinesse als der klassische Skatepunk das tut. „The Horse“ macht den Anfang, ich als Fan der frühen Stunde freue mich allerdings am meisten über „The Kids Can Eat a Bag of Dicks“, „The Soft Sell“ und so weiter. Vor allem die zweite Hälfte des Sets ist der frühen Schaffensphase reserviert. „The King is Dead“ und „The Rip“ sind das gebührende Finale. Von mir aus brauchen A WILHELM SCREAM auch nach sechs Jahren nicht zwingendermaßen neues Material rausbringen. Lieber auf der nächsten Europatour ein komplettes „Ruiner“-Set. Dann würde ich nämlich auch endlich mal meinen Lieblingssong „Cancer Dream“ zu sehen bekommen.

DEFEATER stehen mit einem selbstbetitelten neuen Album in den Startlöchern, werden dies jedoch erst knapp zwei Wochen nach dem Groezrock veröffentlichen. Den neuen Song „Mothers‘ Sons“ spielen sie auch heute, ansonsten gibt es das wohlbekannte Material. Der Auftritt beginnt eher verhalten mit dem vertrackten „Stale Smoke“, aber „Bastards“ und „No Shame“ sorgen für massig Singalongs und Stagedives. Mit „Spared in Hell“ wird der noch beste Song der durchwachsenen letzten Platte gespielt. Auf die alten Knaller muss man leider lange warten, auch wenn „Dear Father“ ein guter Vorgeschmack darauf ist. Die letzten drei Songs „Empty Glass“, „The Red, White and Blues” und “Cowardice” sind für mich der deutliche Höhepunkt des Sets. Ich kann DEFEATER beim besten Willen nicht vorwerfen, dass sie sich musikalisch zu krass gewandelt oder langweilig geworden wären, allerdings bleibt mir das neue Material nicht mehr so im Ohr wie das der ersten drei Veröffentlichungen. Mal sehen, ob das auf dem selbstbetitelten Longplayer anders wird. Ich hatte vor einigen Jahren den Weggang von Gitarrist Jay Maas für die Durchschnittlichkeit des neueren Materials verantwortlich gemacht. Allerdings hat man auch nach dem Live-Auftritt auf dem Groezrock keinen Grund, am musikalischen Skill dieser Musiker zu zweifeln.

Als "Must-See“ wird im Vorfeld der Auftritt von JESUS PIECE gehandelt, die am späten Samstagabend die Bühne des The Cockpit auseinandernehmen sollen. Mit etwas Mühe bekommt man sich nach vorne durchgedrückt und darf der Zerstörung anheim wohnen. Tatsächlich geht die Menge von Minute eins an mit und mosht was das Zeug hält. In ihrem unaufhörlichen Druck und der rhythmischen Vertracktheit kann man JESUS PIECE sicherlich in einen Topf mit Bands wie CODE ORANGE oder VEIN schmeissen, doch vielleicht ist der stumpfe Mosh-Faktor bei der Kapelle aus Philadelphia von den genannten Bands noch am größten. „Only Self“, das Debütalbum, hat den Hype-Faktor nur weiter zementiert und auch einige Zweifler mit ins Boot geholt. Deutliche Anleihen aus dem Death Metal sorgen für ein sehr dichtes Klangbild. Man kann die Fäuste in der Magengrube fast schon spüren, die einem JESUS PIECE hier verpassen. Frontmann Aaron Heard ist sehr charismatisch und kann die Leute gar ohne große Ansagen animieren und bei der Stange halten. Neben der Bühne sieht er mit seiner Nerd-Brille aus wie ein Grafikdesign-Student, auf der Bühne wird er allerdings zum Tier, zieht blank und entblößt sein „Bastard King“-Tattoo auf dem Bauch. Gemessen an der Crowd Reaction sind JESUS PIECE eines der klaren Highlights am Groezrock-Wochenende. Die Tour mit COMEBACK KID, NO TURNING BACK und SHARPTOOTH neigt sich dem Ende. Wenn JESUS PIECE das nächste Mal zurück nach Europa kommen, dann ja vielleicht als Headliner?

Dass Andrew Neufeld von COMEBACK KID zwar kaum Sprechen kann, dafür aber noch Shouten kann wie eh und je, kann man wohl als glücklich bezweifeln. Er habe die ganze Nacht oberkörperfrei im Regen gestanden. Wie dem auch sei, die 55 Minuten auf der Back to Basics Stage reisst er scheinbar locker runter. „False Idols Fall“ legt gleich das Tempo fest, mit dem man sich hier durch’s Set ballert. Die kanadische Hardcore-Institution spielt sich durch ihr Schaffenswerk, wobei nur das Erstlingswerk „Turn It Around“ leer ausgeht. „Die Tonight“ haben sie also wohl vor einiger Zeit aus ihrem Set geworfen. Mehr Platz für neue Songs: „Surrender Control“, „Absolute“ und „Somewhere, Somehow“ zeigen, dass COMEBACK KID es auch 2018 noch drauf haben, stumpfe Mosh-Nummern neben absoluten Hardcore-Hymnen kohärent erscheinen zu lassen. Von „Broadcasting“ gibt es nur den Titeltrack, am besten kommen die Alben „Die Knowing“ und „Wake the Dead“ weg. Bei inzwischen sechs Studioalben hat man eben die Qual der Wahl. Schaut man sich die Menge an Stagedives an und hört man sich die Lautstärke der Mitsingenden an, haben COMEBACK KID richtig gewählt. Wie sollte es anders sein, „Wake the Dead“ ist der krönende Abschluss. Einer der wenigen Songs, den man wohl oder übel auch mit gutem Gewissen in der Hardcore-Disko von der Platte abspielen kann.

JOYCE MANOR haben die große Ehre am Groezrock-Samstag die vierte Bühne zu schließen. Vorher gibt’s jedoch noch 50 Minuten feinsten Indie-Punk. Auch JOYCE MANOR blicken mittlerweile auf fünf Alben und noch mehr EPs zurück, haben also einiges an Material zur Auswahl. Trotz des soundtechnisch spürbaren Unterschiedes zwischen alten und neuen Songs machen sich die weezer-esquen Tracks von „Cody“ und „Million Dollars to Kill Me“ sehr gut zwischen den Klassikern wie „Beach Community“ und „Chumped“. JOYCE MANOR strahlen Leichtigkeit aus und sind eigentlich genau das richtige für den angeheiterten Samstag, nachdem die Sonne schon untergegangen ist. Auf der kleinen Bühne machen sie sich besser als noch vor vier Jahren als Opener der Hauptbühne. Klar gibt es Abstriche im Sound, aber der Band steht ein Auftritt ohne Bühnegraben dann doch besser. Am beeindruckendsten finde ich, dass JOYCE MANOR ihre Songs derart gut beherrschen, dass sie die Fans entscheiden lassen können, womit sie ihr Set beenden sollen. Es wird dann „Leather Jacket“. Fair enough.

Wie jedes Jahr darf natürlich auch 2019 im Lineup des Groezrock eines ganz gewiss nicht fehlen: Eine Skatepunk-Legende. Ob nun NOFX, Lagwagon, Rancid oder wie in diesem Jahr MILLENCOLIN: Die THPS-Vibes sind jedes Jahr für mindestens eine Stunde real. Praktischerweise ruhen sich die Schweden um Nikola Sarcevic nicht auf ihrem Ruhm und den alten Tagen aus, sondern haben mit „SOS“ gerade erst ihre neueste Platte geliefert. Als ich leicht verspätet von JOYCE MANOR rüberlaufe, habe ich sicherlich schon den ein oder anderen Hit verpasst. Den neuen Song „Sour Days“, der vor einigen Tagen mitsamt einer skurrilen Art Skategame-Video herauskam, kriege ich aber zu sehen. MILLENCOLIN ist offensichtlich eine Band, die nach dem Schema „Never change a running system“ operiert. Denn große Sprünge im Sound sucht man hier vergebens. Hier ist es vielleicht eine Grundsatzfrage, ob man am neuen Material Spaß findet: Mag ich es, wenn Künstler sich weiterentwickeln oder will ich von Meilenstein-Bands wie MILLENCOLIN einfach nur wie gewohnt bedient werden? Dass „Pennybridge Pioneers“ nach wie vor die beliebteste Platte der Band ist, lässt sich anhand der Reaktionen einfach beobachten. Das Headliner-Zelt ist heute voller als es gestern noch bei JAWBREAKER war. „The Ballad“ präsentiert Sarcevic alleine und mit Akustik-Gitarre. „Egocentric Man“ zeigt kurz vor Ende nochmal, dass MILLENCOLIN auch in der jüngeren Vergangenheit noch Songs mit ordentlich Ohrwurm-Potenzial aus ihrer Feder gedrückt haben. Was als letztes kommt, ist klar: „No Cigar“ wird mehrmals angetäuscht und dann auch durchgezogen. Spätestens jetzt dürften auch Vollalkoholisierte oder Hörfaule auf Trab sein.

Als kurzes Intermezzo zwischen Co-Headliner und Headliner mache ich mir den Spaß und ziehe mir auf der fünften Bühne BULLS ON PARADE, eine RATM-Coverband rein. Tatsächlich kriegt der dickliche Sänger die Stimme von Zach de la Rocha ziemlich gut gemimt, und vor der Bühne ist natürlich Achterbahn. Vier Songs kriege ich noch mit. „Killing in the Name of“ ist ein bombensicherer Song, der auf jedem Rock-Festival funktionieren würde. Schade aber, dass sie nicht die Worst-Cover-Version dieser rumänischen Band covern, sondern das Original. Absolutes Must-Watch: Wer es noch nicht kennt, sollte bei Youtube nach „Worst band ever – Killing in the Name of Cover“ suchen.

RAGE AGAINST THE MACHINE sind sie nun nicht, aber an den DROPKICK MURPHYS kommt man als Punkrocker wahrlich auch nicht vorbei. Einige THPS-Soundtracks sind mit Liedern der Murphys versehen, auf etlichen Kutten prangert ein grün-weißes Patch der Band. Und die DROPKICK MURPHYS fahren an diesem Wochenende eine Bühnendeko auf wie keine zweite Band. Mit sieben Mitgliedern braucht man natürlich auch Platz. Nach „Foggy Dew“ vom Band erklingen mit „Cadence to Arms“ altverwandte Klänge, wonach die DROPKICK MURPHYS dann mit „The Boys Are Back“ mächtig Stimmung inne Bude bringen. Auch „Johnny, I Hardly Knew Yea“ wird im direkten Anschluss frenetisch abgefeiert. Und von hier an geht es eigentlich beständig so weiter. Die DROPKICK MURPHYS sind im direkten Vergleich ein würdigerer Headliner als es gestern JAWBREAKER waren. Neben den eigenen Klassikern huldigen die Murphys auch ihren Einflüssen: Eigene Versionen von „The Irish Rover“, „The Fields of Athenry“ und „You’ll Never Walk Alone“ kommen beim Groezrock verdammt gut an. „Rose Tattoo“ und „Shipping Up to Boston“ beenden ein Wochenende voller Spaß, Sauferei und Singalongs in erster Klasse.

Unter dem Strich waren es dieses Jahr für mich leider nicht so viele Neuentdeckungen wie gewohnt, das Groezrock verlässt sich auf alte Hochkaräter, die größtenteils in den Vorjahren schon in den Line-Ups vertreten waren. Meine Favoriten waren am Freitag BRUTUS und am Samstag TRASH TALK. Bei den eher überschaubaren Besucherzahlen kann man wie gesagt nur hoffen, dass das Festival uns erhalten bleibt. Eine Sache ist mir allerdings aufgefallen: Während im Jahr 2011, soweit ich mich erinnere, Bridget Regan von FLOGGING MOLLY die einzige Frau auf dem Lineup war, waren 2019 sehr viele Bands mit weiblichen Mitgliedern vertreten. Eine schöne Entwicklung!