Interview mit Youth Brigade

09.11.2010
 

 

Über ein viertel Jahrhundert „Better Youth Organisation". Zum 25-jährigen schenkten sich Youth Brigade´s Stern-Brüder Mark und Shawn – die Köpfe hinter BYO-Records – bereits im letzten Jahr eine Jubiläumsbox, die beim 17- aber auch beim 47-jährigen Punker ein knatterndes Herzrasen auslösen sollte: Eine spielfilmlange DVD mit Label- und Bandhistorie, jeder Menge Interviews und rarem Material plus 31-Song starkem Audiosoundtrack mit dem Who-Is-Who der Punkszene, die sich Klassikern des Who-Is-Who eben jener Punkszene widmet – plus liebevolles, detailliertes Kaffeekranz-Büchlein mit Zitaten der Szene, raren Fotos, sehenswerten Flyern, wahnwitzigen Tourstories, und und und...

Als die Stern-Brüder gen 1982 die Wiege des kalifornischen Punkrocks mitbegründen, ahnen sie nicht, dass die BYO, die "Better Youth Organisation", auch knapp 30 Jahre später noch ihr Leben (mit)bestimmen wird. "Diese ganzen CD´s, Shows, Veröffentlichungen. Die Bands, die Freunde, die Erinnerungen. Es ist wirklich ein unglaubliches Gefühl. Wir hätten damals nicht mal gedacht, dass wir mit 30 Jahren noch in einer Punkband spielen werden." grinst Shawn Stern und gibt leise zu: "Nun bin ich vor ein paar Wochen 50 geworden..."

Das Surfen, die amerikanische Gesellschaft, das Leben in Los Angeles - alles klare Einflüße, die auf die Entstehung von Youth Brigade und BYO Records einwirkten. "Wir waren an vielen Orten der Welt unterwegs, haben verrücktes und krankes Zeugs gesehen, eine Menge Menschen kennengelernt, mit einer Menge Bands zu tun gehabt. Letztlich jedoch hat uns L.A. zu dem gemacht, was wir musikalisch und menschlich geworden sind. Hier liegen unsere Wurzeln, hier wurden Youth Brigade geboren."
Damals, als man nicht von jetzt auf gleich eine Punkband gründen konnte, die mit MySpace-Seite und bereits vorhandenem Netzwerk aus Clubs, Labels oder Bookingagenturen innerhalb kürzester Zeit und ohne jegliche Umstände eine Vielzahl von Menschen erreichen würde, mußte eben jene Arbeit selbst gemacht werden. "Wir haben nie über eine Labelgründung oder unsere Tätigkeiten als Teil der Szene gesprochen. Einer mußte es machen, sonst hätten wir auf dem Trockenen gesessen. Also haben wir selber gehandelt." Mark Stern, heute neben sympathischem Vollzeitpunk auch stolzer Familienvater und Eigenheimerbauer, sitzt kaffeeschlürfend auf der Couch neben seinem Bruder und erzählt aufbrausend aus der Zeit, in der mit Hilfe von Prepaid-Telefonkarten und Promoversand per Briefpost Shows gebucht wurden. "Es gab keine Auflistung von Clubs oder Veranstaltern, die man als Band abarbeiten konnte und zack - hatte man seine Tour gebucht. Wir haben Universitäten oder Plattenläden angerufen, ohne auch nur eine Menschenseele in der jeweiligen Stadt zu kennen. Das waren die Anfänge. Handys? Internet? Fehlanzeige! Früher und heute spielt es eine Rolle, sich mit der Szene auseinanderzusetzen, die Szene kennen- und schätzen zu lernen. Oft fragen mich Bands oder junge Künstler nach Tipps und bitten um Ratschläge. Get to know your scene, get involved - das kann ich raten. Heute spielen sich unbekannte Bands den Arsch ab, aber kriegen nie die Kurve, da sie sich mit Nichts und Niemandem einlassen wollen. Verpulvert nicht Euer Geld, hört nicht ausschliesslich auf Eure Agenten - sondern kümmert Euch um Euch selbst, Eure Entwicklung und nehmt Euer Schicksal in die Hand! So haben wir es schon immer gemacht. Eine Alternative kam für uns nie in Frage."

In Hochzeiten von BYO gab es bis zu 12 Beschäftigte, die in dem Büro an Marks Haus im Herzen von Los Angeles arbeiteten. Heute teilen sich lediglich Mark und Shawn alle anfallenden Arbeiten wie Layouts, Marketing, Vertrieb und Versand. Nach über 25 Jahren im Geschäft belächeln sie noch immer die heranwachsenden Rockstarkids, die nach Ergattern eines Plattenvertrages erstmal an Tourbusse und Dollarscheine denken, anstatt aufbauend und realistisch zu wirtschaften. "Wenn es dem Musiker nicht mehr um die Musik geht, vergiss es. Lass es bleiben. Viel kann man nicht mehr verlieren, die Industrie ist bereits am Ende. Sieh zu, mach Dein Ding. Du kannst zur Businessschool gehen und Management studieren, Dir angesagte Klamotten anziehen und bei Guitar Hero Deine Helden nachäffen - dann kannst Du ebenfalls eine Rockband gründen. Aber das ist nie gewesen, was wir mit BYO und Youth Brigade erlebt oder unterstützt haben. So etwas hat es bei uns nie gegeben. Wir haben erlebt, worüber wir singen. Was heute als Punkrock durchgeht, sind nichts als Äußerlichkeiten, Geld und Mode. Viele Bands werden in ein paar Jahren nicht mehr hinter dem stehen können, womit sie heute ihr Geld verdienen. Sie singen miese Liebeslieder und haben keine Substanz. Aber Bands wie TSOL oder die Adolescents - sie leben wieder auf, da die Kids, die die Schnauze voll von New Found Glory oder Good Charlotte haben, diese Bands für sich entdecken. Diese Bands haben eine Message, die früher wie heute nach wie vor Gültigkeit hat."

Die Worte der Stern-Brüder haben Hand und Fuß, schließlich sind sie sich selbst, BYO und Youth Brigade tatsächlich seit knapp 3 Jahrzenten treu. Jemals eine Youth Brigade Platte auf einem anderen Label veröffentlichen? Das war noch nie Gesprächsthema. Aus dem Label den letzten Cent herausziehen? Nie die Absicht. Ihre Erfahrungen und Kenntnisse weitergeben, aus der Liebe zur Musik ein Leben durch die Musik schaffen, das steht auf dem Zettel der Südkalifornier, die in ihrer Kindheit aus Kanada übersiedelten. Dass Musiker nicht die schlaueste Spezies sind, dass eine Tour viele Tücken mit sich bringen kann und dass über allem steht, nach seinen eigenen, realistischen Verhältnissen zu leben - jene Ratschläge wollen die beiden höflichen Herren mit den kurzen, langsam auch grauen Haaren an den Mann bringen. Ebenfalls ganz oben auf der BYO-Prioritätenliste steht das freunschaftliche und persönliche Verhältnis zu allen Künstlern. "Wir pflegen die Beziehungen und sind mit nahezu allen Bands und Musikern im stetigen Kontakt. Sie wissen unsere Arbeit zu schätzen und geben im Gegenzug ihr Bestes. So kamen wir irgendwann auf die Idee, einen Großteil unseres Roosters mit in unser Jubiläumsprojekt einzubeziehen." Schon bei den berüchtigten "Split Series" des BYO-Gespanns wurden labelinterne und befreundete Künstler (u.a. Swigin´ Utters, Hot Water Music, Bouncing Souls, NOFX oder Alkaline Trio) angehalten, sich eine LP-lange Veröffentlichung schlicht zu teilen, sei es mit eigenen Stücken oder exklusiven Coverversionen.
So basiert die grundlegende Idee der "Better Youth Organisation" heute - in denkbar schlechten Zeiten für Plattenfirmen und Musikindustrie - mehr denn je auf gesunder und nüchternder DIY-Ebene und bietet, was heute nur noch selten so realitätsgetreu und bodenständig daherkommt. "Wir versuchen, unsere Preise unten zu halten und unser einfach unser Ding durchzuziehen. Es geht uns nicht ums Geld. Verdammt, Geld hätten wir längst mit anderen Dingen verdienen können. Es geht um die Musik, um den Zusammenhalt, um die Aussage an sich."
Youth Brigade und BYO Records stehen mit beiden Füssen in der Realität, sind somit auch mit beinahe 30 Lenzen auf dem Buckel nicht unterzukriegen: "Würde ich heute Songtexte für Youth Brigade schreiben, ich würde höchstwahrscheinlich dieselben Themen behandeln, die wir bereits vor über 20 Jahren besungen haben - nur noch angepisster und wütender. Der ganze Scheiß, der sich damals abgespielt hat - sei es in Politik oder Wirtschaft oder der Gesellschaft an sich - hat sich kaum verändert. Ein Großteil davon ist sogar noch schlimmer geworden." Shawn Stern wirkt fokussiert und verhalten, das Feuer der Youth Brigade lodert also noch immer. "Wir arbeiten an neuen Songs, hoffentlich wird es außerdem eine neue "Split Series"-Veröffentlichung auf BYO Records geben. Aber welche Bands es dieses Mal trifft - und in welcher Konstellation - das kann ich noch nicht verraten..."

Während sich also der amerikanische Durchschnittsbürger weiter mit Fastfood vergiftet ("Und ich fühle mich schon mies und respektlos, wenn ich nur esse, während eine Band vor mir spielt, verdammt..." / O-Ton Mark Stern), endlos und ungeniert konsumiert und es mit dem Wirtschaftswahnsinn weiter steil gegen die Wand geht, darf der europäische Anhänger wenigstens Zeuge des "Let Them Know"-Filmes und der Youth Brigade 2010 werden. Pflichttermine anbei:

17.11.2010 NL-Amsterdam, Winston King

18.11.2010 NL-Eindhoven, Area 51

20.11.2010 NL-Hengelo, Innocent

21.11.2010 Hannover, Faust

22.11.2010 Berlin, Wild At Heart

23.11.2010 Hamburg, Hafenklang

24.11.2010 Münster, Gleis 22

25.11.2010 Bremen , Lila Eule

26.11.2010 Kiel, Alte Meierei

26.11.2010 Bielefeld, AJZ

27.11.2010 Frankfurt, AU

29.11.2010 Karlsruhe, Alte Hackerei

30.11.2010 Stuttgart, JUHA West

01.12.2010 München, Feierwerk

16.12.2010 Wermelskirchen, JUZ

17.12.2010 Essen, Café Nova